Kopfloser Sommer - Roman
unter Druck setzen.«
»Ihn unter Druck setzen?«
»Du weißt genau, was ich meine. Dieser Unfall seiner Eltern. Er ist nicht bereit, darüber zu reden, und das müssen wir akzeptieren. Es kommt, wenn es kommt.«
Sie geht wieder an ihren Computer und versucht zu arbeiten. Ich setze mich aufs Sofa und schaue mir eine Frauenzeitschrift an. Ihre Finger klappern über die Tastatur, aber es scheint nicht richtig zu fließen. Sie stöhnt leise, kann sich nicht konzentrieren.
»Ich frage mich die ganze Zeit, ob er wohl auch im Boot gewesen ist«, sagt sie plötzlich.
»In welchem Boot?«
Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank und nimmt eine Flasche Weißwein heraus. Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Sie schenkt sich ein Glas ein und kommt zurück ins Wohnzimmer.
»Es ist doch offensichtlich, dass er Schuldgefühle hat, oder?«
Sie blickt mich an, schaut aber durch mich hindurch und fokussiert irgendetwas weit Entferntes auf der anderen Seite des Gartens und des Waldes, weit draußen auf dem Meer. Während sie an ihrem Glas nippt, denkt sie über den Unfall nach, der Anders für sein Leben gezeichnet hat.
»Vielleicht ist das Boot gekentert, und er hat sich an Land retten können. Seine Eltern aber nicht. Und dann ließ sich nicht schnell genug Hilfe holen.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Aber wir wissen es nicht, Emilie. Es könnte auch sein, dass er gar nicht im Boot gewesen ist. Vielleicht ging er davon aus, dass sie auf einem längeren Segelausflug sind und er vorläufig nichts von ihnen hören würde, und dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür und erklärt, sie hätten das Boot gefunden. Leer. Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als zuwarten, bis die Leichen angespült wurden. Stell dir das mal vor. Es muss eine furchtbare Wartezeit gewesen sein, nicht? Weißt du, dass die Leichen nie gefunden wurden?«
Ich nicke, aber sie bemerkt es nicht, denn sie ist vollkommen versunken in ihren Spekulationen. Als würde sie einen inneren Film abspulen. Ich warte geduldig, was als Nächstes kommt.
»Sie könnten aber auch alle drei hinausgefahren und von schlechtem Wetter überrascht worden sein. Irgendwie hat Anders dann den Baum an den Kopf bekommen und ist über Bord gefallen. Er ist leblos, bewusstlos, der Schlag hat ihn sehr unglücklich getroffen. Die Eltern sind entsetzt, und weil alles so schnell geht, springen ihm beide nach, und das Boot treibt ab. Die Mutter bekommt im letzten Moment die Reling zu fassen, während der Vater versucht, den Sohn zu bergen. Allerdings ist es nicht einfach, ihn an Bord zu bringen, denn Anders ist schwer und unbeweglich. Schließlich gelingt es, aber nun haben die Eltern ihre letzte Kraft verbraucht und können sich nicht mehr selbst an Bord retten. Sie sind zu erschöpft, das Boot wird von der Strömung erfasst und gleitet immer weiter fort. Obwohl sie um Hilfe rufen, hört der Sohn sie nicht, denn er liegt noch immer bewußtlos an Deck. Als er endlich aufwacht, ist er allein. Er versteht nicht, was passiert ist, und er wird es nie verstehen. Und damit schlägt er sich noch immer herum, Emilie. Es hat zu einem Trauma geführt, und jetzt ist es an der Zeit, dass er mit jemandem darüber redet.«
»Meinst du nicht, dass sie Schwimmwesten hatten?«
Sie wird aus ihrem inneren Film gerissen und schaut mich an, als wäre ich eine komplette Idiotin, als schämte sie sich für mich. Aber ich finde, mein Einwand klingt vernünftig.
»Vielleicht hatten sie an diesem Tag vergessen, sie anzuziehen«, erwidert sie müde. »Außerdem kann man trotzdem ertrinken, das Wasser ist bestimmt kalt gewesen. Es ist ungefähr zwei Jahre her, sagt er, irgendwann im April oder Mai.«
Ich nicke, sie hat wie immer recht. Es war eine vollkommen idiotische Bemerkung, ich sehe es ein. Es geht schließlich nicht um die Wahrheit, sondern um das, was sie sich vorstellen will.
»Was meinst du? Hast du eine andere Theorie?«
»Könnte es sein, dass seine Probleme gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben?«, frage ich vorsichtig. »Sondern mit der Gegenwart?«
»Mit der Gegenwart? Was sollte das sein?«
»Was weiß ich. Vielleicht eine Freundin, die Schluss gemacht hat, und die er ganz furchtbar vermisst.«
Mutter schnaubt höhnisch. Sie ist der festen Überzeugung, dass er keine Freundin hat; dazu ist Anders ihrer Ansicht nach gar nicht bereit, bei all dem Kummer, den er mit sich herumschleppt.
»Irgendwann bricht er zusammen, das weiß ich«, erklärt sie.
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