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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mutter, wie es ist. Sie soll die Wahrheit erfahren. Ich will ihre Tochter, nicht sie.«
    »Das machst du auf keinen Fall! Es gibt nichts zu erzählen, denn ich will dich nicht länger sehen.« Ich werfe das Fenster zu, lege den Griff um und setze mich an den Schreibtisch. Er klopft noch einmal, aber ich drehe mich nicht um; ich habe Angst, in seine warmen braunen Augen zu blicken.
    Was bildet er sich eigentlich ein? Er soll Mutter überhaupt nichts erzählen, es würde sie nur unglücklich machen. Und wenn sie unglücklich ist, überträgt sich das zwangsläufig auf Jacob. Ihm ginge es schlechter, und uns allen wären die Ferien verdorben. Wenn überhaupt jemand etwas sagt, dann bin ich es. Und ich muss versuchen, es so auszudrücken, dass sie sich nicht zurückgestoßen oder verhöhnt fühlt. Ganz wird es sich wahrscheinlich nicht vermeiden lassen, aber dann bin ich ja da, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Wenn es sein muss, kann ich das, auch wenn ich eigentlich lieber von ihr getröstet werde. Schließlich ist sie meine Mutter! Ich spüre, wie mir die Tränen kommen, ich brauche jemanden, der mich in den Arm nimmt, aber wer könnte das sein?
    Mutter sitzt wie gewöhnlich an ihrem Laptop. Als sie mich sieht, steht sie voller Elan auf und umarmt mich. So, wie nur eine Mutter eine Tochter umarmen kann ‒ es hat mir in letzter Zeit gefehlt. Ich vergesse alles, was ich sagen will. Dafür fängt sie an, mir etwas zu erzählen. Zunächst verstehe ich überhaupt nicht, worum es geht, doch nach und nach begreife ich. Sie redet über ihren letzten Artikel, den über häusliche Gewalt. Es sind so viele positive Reaktionen von Leserinnen gekommen, dass sie von ihrer Chefin sogar gelobt wurde. Sie fand es sehr in Ordnung, dass Mutter diesmal ein bisschen persönlicher geworden ist. Sie hat sich nicht ganz an das Thema gehalten, sondern über Frauen geschrieben, die ihre Männer verprügeln. Unter anderem hat sie berichtet, wie sie Anders mit einem Baseballschlager bewusstlos geschlagen hat. Der Artikel ist ein richtiger Renner und zu gut, um nur im Webmagazin zu stehen, die Chefredakteurin hat ihn auch für die Printausgabe vorgesehen.
    »Und du hast mich auf die Idee gebracht«, sagt sie. »Vielen Dank!«
    Sie greift nach meinen Händen und drückt sie, wir sehen uns an. Ich bin überrascht, wie hübsch sie aussieht, wenn sie glücklich ist. Und ich bin stolz, dass ich dazu beitragen konnte. Einen kurzen Augenblick ist die Geschichte mit Anders und dem Badezimmer nicht mehr so wichtig.
    »Und wie geht es dir, mein Schatz? Hast du eigentlich von Amalie aus Portugal gehört? Du kannst sie doch zu uns einladen, wenn sie aus den Ferien zurückkommt. Und wenn du willst, kann sie auch ihren Bruder mitbringen.«
    Ich erkläre ihr, dass mich Amalies großer Bruder nicht mehr interessiert, und überlege, ob ich ihr jetzt die Wahrheitüber Anders sagen soll. Aber ich traue mich nicht. Ich will die angenehme Atmosphäre nicht zerstören. Mutter strahlt und ich bin glücklich. Es ist lange her, dass sie so mit mir gesprochen hat. Sie scheint wirklich verliebt zu sein, und ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihr dieses Glück zu verderben. Aber was wird aus mir? Ich drehe mich um und schaue aus dem Fenster zum Garten.
    Anders sitzt draußen im Gras und hält irgendetwas in den Händen. Er sieht es sich an. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Jacob stellt ihm eine Frage und zeigt dabei auf die elektrische Heckenschere, doch Anders schüttelt den Kopf und blickt zum Wohnzimmerfenster. Er sieht mich direkt an, hebt den Arm hoch, und zeigt, was er in den Händen hält. Meinen Zeichenblock. Verdammt, jetzt hat er die Zeichnung gesehen, die ich von ihm und Henriette gemacht habe. Auf der er den Kopf zwischen ihren nackten Brüsten herausstreckt und nach Luft schnappt. Ich weiß nicht, wie ich den Blick deuten soll, den er mir zuwirft. Dann dreht er sich um und blättert weiter in dem Block. Er kann sich doch nicht meine Zeichnungen ansehen, ohne um Erlaubnis zu fragen? Einen Moment überlege ich, ob ich ihm den Kopf waschen soll. Doch als Mutter sich neben mich stellt, verwerfe ich den Gedanken.
    »Ach, der kleine Mann«, sagt sie mit großer Zärtlichkeit und seufzt. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn er loslassen könnte und sich von mir helfen ließe.«
    »Wobei?«
    »Bei dem, was ihn quält. Er ist sehr unglücklich, Emilie. Spürst du das nicht?«
    »Na ja …«
    »Du kannst es mir glauben. Aber wir dürfen ihn nicht

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