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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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das Recht, Bescheid zu wissen, und je mehr Zeit vergeht, desto demütigender ist es für sie. In diesem Moment klopft Jacob an die verschlossene Badezimmertür. »Emilie! Bist du da drin? Vater ist gleich hier, um uns abzuholen!«
    »Ist das wahr? Aber er wollte doch erst morgen kommen. Heute ist Freitag, er wollte uns am Samstag holen.«
    Aber Jacob bleibt dabei. »Nein, er kommt heute. Er hat angerufen und gesagt, es würde ihm besser passen, uns schon heute zu holen. Du musst deine Sachen packen.«
    Ich bin total durcheinander. Es ist halb fünf, alles kommt etwas plötzlich, er hätte doch auch früher anrufen können. Als ich in die Küche komme, sitzt Mutter dort und trinkt Kaffee.
    »Stimmt das? Holt Vater uns gleich ab?«
    »Ja, irgendeine Sitzung wurde verlegt. Ihr könnt bis Sonntagabend bei ihm bleiben. Wenn ihr wollt«, fügt sie hinzu.
    Von Freitag bis Sonntag, das heißt ganze drei Tage zusammen mit unserem Vater. Es ist lange her, dass wir so viel Zeit mit ihm verbracht haben. Ich freue mich und fange an zu tanzen, bereue es aber sofort. Ich darf nicht allzu begeistert sein, sonst verletze ich Mutter.
    »Was meinst du, Jacob?«, frage ich mit einem skeptischen Unterton. »Wollen wir?«
    Jacob nickt, er freut sich ganz ungeniert ‒ und mir geht es im Grunde ja genauso. Ich will einfach mal wieder in die Stadt und auf andere Gedanken kommen. Mit meinem Vater zusammen sein und meine Freundinnen treffen, wenn dazu die Zeit bleibt. Außerdem sind wir das erste Mal in seiner neuen Wohnung. Er hat versprochen, ein Zimmer für uns einzurichten. Ich laufe in mein Zimmer, um zu packen. Als Jacob auf dem Flur vorbeigeht, rufe ich ihn herein und schließe die Tür.
    »Lieber Jacob«, sage ich mit gedämpfter Stimme. »Ich möchte dich um etwas bitten, wenn wir bei Vater sind.«
    »Was bekomme ich dafür?«
    »Die hier.« Ich zeige ihm eine Zwanzig-Kronen-Münze. Sofort hört er mir zu. »Aber du sagst Mutter nichts.«
    Er schwört.
    »Wenn Vater fragt, wie es uns hier geht, dann sagen wir, dass es uns gut geht.«
    »Mehr nicht?«
    »Kein Gejammer, wir wohnen schön hier, es ist ein hübsches Haus, wir genießen den Sommer. Und deine kranken Fantasien über Ritter und Leute ohne Kopf, die behältst du für dich.«
    »Okay«, verspricht er und will gehen, aber ich halte ihn zurück.
    »Und du erzählst ihm nichts von Anders, das überlässt du mir.«
    Wieder nickt er und kann die Augen nicht von der Münze in meiner Hand lassen. Bevor er geht, muss er noch einmal schwören. Hoffentlich kann ich mich auf ihn verlassen. Die Geschichte mit Anders muss auf die richtige Art und Weise erzählt werden, sonst ist der Teufel los. Vielleicht hätte ich Jacob zur Sicherheit mit einer Strafe drohen sollen, wenn er sich nicht an die Abmachung hält? Vielleicht mit einem Pferdekuss? Oder dass ich drei Tage nicht mit ihm reden werde. Oder beides? Noch bevor ich eine Entscheidung getroffen habe, höre ich Vaters Wagen in der Einfahrt. Jacob rennt hinaus. Ich folge ihm. Natürlich freue ich mich, aber ich muss zugeben, dass ich bereits jetzt leichte Bauchschmerzen habe. Hauptsache, es funktioniert ‒ allerdings passiert nichts von allein, es geht darum, die richtigen Worte zu finden.
    Vater ist kaum ausgestiegen, als Jacob sich ihm in die Arme wirft. Sie umarmen sich so fest, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Ich bekomme einen Kloß im Hals und bin ehrlich gesagt auch ein bisschen eifersüchtig, denn was ist mit mir? Wann komme ich an die Reihe? Vater hebt Jacob hoch undwirbelt ihn im Kreis herum. Jacob juchzt laut auf, er ist verrückt vor Freude. Als Vater ihn absetzt, um Luft zu holen, will Jacob noch einmal herumgewirbelt werden. Und dann noch einmal, er will überhaupt nicht wieder aufhören. Vater ist inzwischen einigermaßen außer Atem und muss sich ans Auto stützen. Ich versuche Jacob zu beruhigen. Aber das ist gar nicht so einfach, denn er ist völlig außer sich und verdreht bereits die Augen, ein seltsamer Anblick. Und noch schlimmer ist es, ihn anzuhören. Jacob stößt laute, durchdringende Schreie aus, ob aus Freude oder Schmerz, ist schwer zu entscheiden. Schließlich läuft sein Kopf blau an und er ringt nach Atem. Vater packt ihn an den Schultern und schüttelt ihn, jetzt ist es genug, er soll sich zusammennehmen. Jacob nickt und beißt sich in den Handrücken; sein Geschrei legt sich.
    Und nun bin ich endlich an der Reihe. Lächelnd wendet Vater sich mir zu und umarmt mich herzlich. Wir halten uns

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