Kopfloser Sommer - Roman
wagen es nicht, sich der Liebe hinzugeben. Ein Phänomen, das vor allem bei jungen Männern verbreitet ist.«
Mutter denkt einen Moment nach und kommt zu dem Schluss, dass Henriettes Erklärung sehr vernünftig ist. Ich sehe ihr an, wie ihr diese Erklärung hilft. Eigentlich ist es doch schade, sagen sie beinahe gleichzeitig, vor allem für die Männer. Sie verpassen so viel Schönes, weil sie sich nicht trauen, sich hinzugeben. Frauen sind da generell bereiter. Manchmal sind sie allerdings auch zu offen, denn wenn ihre Gefühle nicht erwidert werden, kann das sehr schmerzhaft sein. Und genauso geht es Mutter im Augenblick, sie ist wirklich unglücklich. »Vielleicht sollte ich ihn aufgeben«, sagt sie, »ich quäle mich doch nur selbst.« Aber rausschmeißen möchte sie ihn auch nicht.
»Nein, das solltest du nicht tun«, meint Henriette. »Gib ihm etwas Zeit, das wird schon werden.«
»Und wenn nicht?«
»Dann kannst du ihn immer noch rausschmeißen, ganz klar. Aber lass ihn erst den Garten in Ordnung bringen. Ach, ich muss dir etwas zeigen.« Henriette zieht eine bunte Broschüre aus ihrer Handtasche und gibt sie Mutter. Mutter blättert, und soweit ich verstehen kann, handelt es sich um irgendeinen Kurort. Ein Wellnesscenter in Südschweden. Esklingt nach einem fantastischen Ort ‒ und nur für Frauen.
»Ich will mich erkundigen, ob im Spätsommer am Wochenende noch Plätze frei sind, hast du nicht Lust mitzukommen? Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.«
Mutter blättert noch immer in der Broschüre, liest ein paar Angebote laut vor. Offenbar gibt es verschiedene Formen von Massage, Akupunktur und Moorbädern. Möglicherweise habe ich es nicht richtig verstanden, aber ich meine, Mutter hätte Unterleibstherapie gesagt. Vermutlich meint sie Gesprächstherapie.
»Die Therapeuten sind hochprofessionell«, versichert Henriette. »Und unglaublich nett, man wird so verwöhnt.«
»Hier steht, nur für Frauen. Das klingt ziemlich langweilig.« Mutter sieht Henriette mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Na ja, bei den Therapeuten handelt es sich ausschließlich um Männer.«
Mutter nickt, jetzt begreift sie; es interessiert sie mehr und mehr. Wissend lächelnd sehen sich die beiden an. Und ich weiß, was ihnen im Kopf herumgeht. Sie wollen Sex, diese in die Jahre gekommenen Weiber, es ist einfach unappetitlich.
»Man ist den ganzen Tag in guten Händen. Und manchmal auch abends«, erklärt Henriette.
»Deshalb ist es wohl auch so teuer?«
Dreckiges Grinsen. Jetzt ist es genug, ich werde gehen.
»Es ist jeden Cent wert, glaub mir. Ich bin schon vier Mal dort gewesen und habe nur Gutes erlebt. Ich bin schon fast abhängig.«
Mutter will darüber nachdenken, sagt sie. Es ist teuer, und sie muss mit der Bank reden, ihren Dispokredit erhöhen. Ich halte es für keine gute Idee, denn die Zinsen für solche Kredite sind viel zu hoch, das hat sie mir selbst erzählt. Mir fällt derBleistift auf den Boden, und erschrocken schauen sie in meine Richtung.
»Emilie, du sitzt noch da?«
»Ja, lasst euch von mir nicht stören. Ich zeichne bloß.«
»Ich dachte, du wärst längst gegangen«, fügt Mutter leise hinzu. Bestimmt fragt sie sich, wie viel ich gehört habe und ob sie sich in meinen Augen lächerlich gemacht hat.
»Dürfen wir sehen, was du gezeichnet hast?«, fragt Henriette.
Aber ich bin nicht fertig, ich möchte es noch nicht zeigen.
Doch Henriette besteht darauf, und schließlich gebe ich ihr den Block. Zum Glück war ich vorausschauend genug und habe ein geschöntes Bild der beiden Frauen gezeichnet. Sie sehen zehn Jahre jünger aus, als sie tatsächlich sind. Sie strahlen und sind sofort milder gestimmt, vor allem Mutter. Sie lobt meine Begabung und meint, ich hätte einen feinen, naturalistischen Strich. Meine satirischen Bilder sind auch gut, aber die Zeichnungen, die sich an der Realität orientieren, sind besser. Henriette ist ganz ihrer Meinung. Wenn ich so weitermache, werde ich eines Tages Geld damit verdienen können, sagt sie. Das klingt alles sehr schön, doch wenn man als Künstler auf diese Weise sein Geld verdienen muss, bin ich nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich will.
Henriette steht auf und erklärt, sie müsse nach Hause. Dieses Mal kann sie nicht zum Essen bleiben, sie hat am Abend noch ein Treffen in der Stadt. Wir verabschieden uns, und als sie gefahren ist, gehe ich ins Badezimmer, schaue in den Spiegel und beschließe, Mutter alles zu erzählen. Jetzt. Sie hat
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