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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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erzählen, dass Mutter Anders bewusstlos geschlagen hat.
    »Das heißt, er hat auch bei euch übernachtet?«
    »Er hat als Kind in dem Haus gewohnt«, wiederhole ich. »Er ist dort aufgewachsen, und er kann uns bei vielen Dingen helfen.«
    »Wie heißt dieser Anders denn mit Nachnamen?«
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
    »Wohnt er jetzt bei euch?«
    »Na ja, was heißt wohnen. Er schläft im Gästezimmer, aber er hat auch noch ein Zimmer in der Stadt.«
    »Hm«, brummt Vater. Ich weiß genau, was dieses Geräusch zu bedeuten hat: Er ist mit der Antwort nicht zufrieden und glaubt, dass wir ihm etwas verheimlichen. Womit er ja recht hat. Jetzt dreht er sich um und blickt Jacob direkt an, vermutlich hofft er, von ihm eine Antwort zu erhalten.
    »Wohnt er nun bei euch oder wohnt er nicht bei euch? Ich werde aus deiner Antwort nicht recht schlau.«
    »Ich sag doch, dass er nicht bei uns wohnt.«
    »Und was sagst du, Jacob?«
    »Onkel Anders? Nein, Emilie hat recht«, antwortet er mit einer Stimme, die nicht ihm zu gehören scheint.
    »Wieso nennt ihr ihn dann Onkel?«
    »Das ist nur ein Spaß, er hat sich selbst so genannt. So ähnlich wie Onkel Donald.« Da ich so schnell wie möglich dasThema wechseln will, erkundige ich mich nach Vaters neuer Wohnung; wie groß unser Zimmer sei? Mein Ablenkungsmanöver funktioniert, Vater redet gern über die Wohnung. Und nun kann sich auch Jacob an der Unterhaltung beteiligen, denn die Wohnung gehört nicht zu den gefährlichen Gesprächsthemen. Er braucht sich nicht mehr auf die Zunge zu beißen und so zu tun, als spiele er Nintendo.
    Das Thema Anders steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Ich schaue aus dem Autofenster und es geht mir zunehmend besser. Je höher die Häuser werden, desto wohler fühle ich mich. Der Verkehr nimmt zu, in einem Cabrio sitzen zwei junge Männer in Badehosen und Sonnenbrille. Eine alte Frau führt ihren Hund aus, er zieht an der Leine und will zu einem anderen Hund, der vor einem Bäckerladen angebunden ist. Ein Krankenwagen mit eingeschalteter Sirene zwingt uns, am Straßenrand zu halten. Ich habe das Gefühl, dass es Jahre her ist, seit ich das letzte Mal in Kopenhagen war. Die Erwachsenen würden es wohl sentimental nennen, aber ich lächele vor mich hin und habe Tränen in den Augen. Ich fühle mich hier wohler als auf dem Land, hier kann man tun, was man will, hier lässt sich frei atmen.
    Ich schicke Amalie eine SMS; sie soll wissen, dass ich mit Vater auf dem Weg in die Stadt bin. Es ist schön, so etwas zu schreiben. Auch Jessica schreibe ich eine SMS, sie ist eine der wenigen Freundinnen, die in den Sommerferien zu Hause geblieben sind. Ich erkundige mich, was sie Samstagabend macht und ob ich sie besuchen kann. Allerdings habe ich Vater noch nicht um Erlaubnis gefragt. Aber wir sind ja zwei volle Tage bei ihm, und wenn ich verspreche, nicht zu spät nach Hause zu kommen, wird es schon gehen.
    Noch während ich Jessica schreibe, antwortet Amalie. Sie fragt nach unserem Gast und ob sich die Beziehung entwickelt hat, habt ihr miteinander geschlafen? Ihrer Meinung nach soll ich mir nicht so viele Gedanken um den Altersunterschied machen, es würde mir nur guttun, mit jemandem zusammen zu sein, der ein bisschen Erfahrung hat. Auf diese Weise würde ich vielleicht aufholen, was sie mir voraushat. Ich schreibe zurück, sie hätte mir gar nichts voraus, denn sie vergisst, dass sie fast ein Jahr älter ist als ich, obwohl wir in die gleiche Klasse gehen. Aber in zwei Wochen werde ich fünfzehn, und dann bin ich sozusagen ›legal‹. Ich freue mich auf meinen Geburtstag.

10
    Vaters neues Zuhause ist eine Dreizimmerwohnung in Nørrebro. Vierter Stock mit Aussicht über die Seen der Innenstadt. Es überrascht mich, dass er sich eine solche Wohnung leisten kann, denn Mutter und er haben beim Verkauf unserer alten Wohnung doch einiges Geld verloren. Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass sie beide kurz vor der Insolvenz standen, aber da habe ich mich offenbar geirrt. Er muss einen günstigen Kredit bekommen haben, hoffentlich mit Festzinsen. Hauptsache, er hat sich nicht zu einem tilgungsfreien Darlehen überreden lassen, denn da ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Zinsen steigen. Jetzt ist indes nicht der Moment, ihn danach zu fragen.
    Jacob und ich sind sehr neugierig auf unser Zimmer, und wir werden nicht enttäuscht. Das Zimmer ist groß genug, wir können beide problemlos darin schlafen. Vom Fenster aus sieht man auf einen ruhigen

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