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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sagen, ich kenne ihn besser, und ich vertraue dem Mann, den ich liebe.
    Ein nackter Mann liegt in meinem Bett. Im Augenblick schläft er und ich bin wach. Ich verstehe nicht, wie er schlafen kann; ich habe das Gefühl, nie wieder schlafen zu können.
    Allmählich bricht der Tag an. Das Fenster steht einen Spalt offen, die Vögel singen. Sind es nicht mehr Vögel als gewöhnlich? Ich stehe auf und öffne das Fenster, atme die frische Morgenluft. Die Sonne geht auf und lässt die Bäume lange Schatten auf den Rasen werfen. Schatten, die bis ans Haus reichen und wie Fangarme aussehen, die nach mir greifen. Man muss keine Angst haben, im Gegenteil, ich habe plötzlich Lust, aus dem Fenster zu steigen und einen langen Spaziergang durch den Garten zu unternehmen. Mit nackten Füßen im Gras. Sogar das Gras erscheint mir grüner als sonst. Aber der Spaziergang muss warten.
    Ich drehe mich in Richtung Kleiderschrank, dort hängt ein Spiegel. Sieht man es mir an, dass sich etwas verändert hat? Dass ich keine Jungfrau mehr bin? Dass ich die glücklichste Frau der Welt bin? Ich bin nicht einmal fünfzehn, aber Anders hat mich gelobt und gemeint, ich würde älter wirken, als ich bin. Man sollte nicht glauben, dass ich zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen habe, hat er gesagt. Also abgesehen von dem Blut auf dem Laken. Aber ich hatte wirklich noch keinen anderen, ich habe lediglich in der Fantasie geübt. Gut, dass ich über diese Fantasie verfüge.
    Ich lege mich wieder ins Bett, krieche zu ihm unter die Decke. Küsse ihn sanft. Er wacht auf und sieht mich liebevoll an. Meine Fingerspitzen spielen mit seinen Haaren, streicheln über seine glatte Stirn. Die Wunde, zu der Mutter ihm verholfen hat, ist gut verheilt.
    »Deine Beule ist weg«, sage ich.
    »Mein Horn meinst du? Nein, das steckt jetzt innen.«
    Meine Finger fahren über den Hals hinunter zur Brust, sie finden eine Stelle, an der die Haut sich anders anfühlt. Neben dem Herzen.
    »Was hast du hier? Eine Narbe?«
    »Von einer Schussverletzung. Frau Larsen gefiel es nicht, dass ich noch ihren Garten nutzte, nachdem sie mir gekündigt hatte. Sie hat sich mit einem Kleinkalibergewehr auf die Lauer gelegt.«
    »Du bist nachts nackt herumgelaufen und hast merkwürdige Geräusche von dir gegeben, oder?«
    »Nackt? Nein, bestimmt nicht, warum sollte ich?«
    Ich bin verwirrt, warum gibt er es nicht zu? Oder handelt es sich bloß um ein Gerücht, das Frau Larsen in die Welt gesetzt hat? Und das Mutter glaubt?
    »Betrinkst du dich nachts manchmal? Oder isst du euphorisierende Pilze?«
    Er sieht mich an und schüttelt den Kopf, als könnte nichts absurder sein. Und mir ist es total peinlich, dass ich gefragt habe. Doch er bricht in Gelächter aus und küsst mich, und ich bin erneut unsicher, ob nicht vielleicht doch etwas dran ist an der Geschichte.
    »Bist du nicht doch einmal nackt herumgelaufen? Oder vielleicht nur in der Unterhose spazieren gegangen?«
    »Kann schon sein«, gibt er zu. »Ja, ich glaube schon. Aber richtig nackt bin ich nicht gewesen. Sollte man vielleicht mal versuchen. Wenn du willst, können wir es ja zusammen probieren.«
    Ich bin ein wenig verlegen, denn genau davon habe ich geträumt. Aber ich weiß nicht, ob ich mich traue.
    Ich muss einfach über Anders und Mutter Bescheid wissen. Läuft noch immer etwas zwischen den beiden? Wenn ich frage, schüttelt er nur den Kopf und sagt, ich könne ganz beruhigt sein. Mutter hat heftig mit ihm geflirtet, und ein paar Mal hat sie sich auch von hinten angeschlichen und ihn in denNacken geküsst, so etwas muss Jacob gesehen haben. Aber was heißt das? Mich will er, nicht sie. Und genau das möchte ich hören. Ich glaube ihm und kuschele mich an ihn.
    »Wie war’s bei deinem Vater?«, erkundigt er sich. »Hast du ihm die Meinung gesagt?«
    »Ja.«
    »Hast du ihm deine Wut gezeigt?«
    »Ich denke schon, nur hat’s mir dann auch gleich wieder leidgetan. Aber ich glaube, er hat verstanden, dass ich von ihm enttäuscht bin.«
    »Enttäuscht ist nicht genug, Emilie. Du musst dir selbst das Recht zugestehen, wütend zu sein. Noch hält dich irgendetwas zurück. Aber du kennst jetzt das Gefühl, nun musst du es freisetzen. Reite auf diesem Gefühl wie auf einer Welle.«
    »Es ist nur so schwer, aber ich versuch’s. Als ich ihm die Meinung gesagt habe, hat er es ziemlich gefasst aufgenommen. Besser als ich es erwartet hatte. Wir haben uns regelrecht ausgesprochen.«
    »Das habe ich mir gedacht. Und jetzt seid ihr

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