Kopfloser Sommer - Roman
ständig werden meine Figuren rausgeschmissen. Schließlich stehen alle meine Männchen wieder auf den Startfeldern. Ich bin keinen Schritt vorangekommen, es deprimiert mich.
»Emilie kommt nicht aus den Häuschen«, kräht Jacob, und das macht es nicht besser. Doch er bereut seinen Satz und will es wieder gutmachen: »Aber dafür hast du Glück in der Liebe!«
Den Spruch hat er von Mutter, aber gerade jetzt trifft er mich besonders hart, denn ich habe wirklich nicht das Gefühl, als wäre das so. Mutter sieht mich mitleidig an. Ich gehe davon aus, dass sie Anders auch vermisst, aber sie hat das Schlimmste offenbar bereits überstanden. Sie will die Geschichte vergessen und setzt alles daran, dass wir endlich den Sommer verleben, den sie sich die ganze Zeit vorgestellt hat. Einen Sommer, in dem nichts Besonderes passiert, in dem wir nur ganz alltägliche, nette Dinge unternehmen. Das haben wir alle nötig ‒ sofern man ihr glauben darf.
In dieser Nacht ziehe ich die Gardinen absichtlich nicht vors Fenster, um aus dem Bett in den Garten schauen zu können. Zu schlafen fällt mir schwer. Wo ist Anders jetzt? Vater wäre fähig, ihn auf ein Polizeirevier zu bringen, aber mal ehrlich: Warum sollten sie ihn ins Gefängnis stecken? Schließlich hat er nichts gestohlen. Ich vermute, dass er in seinem Zimmer in der Stadt im Bett liegt und an mich denkt.
Ein paar Mal hebe ich den Kopf; mir scheint, als hätte sich zwischen den Bäumen etwas bewegt. Egal, ich habe keine Angst. Mein Verhältnis zu dem Garten hat sich tatsächlich verändert, noch vor ein paar Wochen mochte ich ihn nicht besonders. Jetzt reagiere ich gelassen auf alles, was aus dem Garten zu mir dringt.
Aber als ich mich gerade richtig entspanne und spüre, dass ich jetzt einschlafen kann, gellt ein Schrei aus Jacobs Zimmer. Sicher hat er wieder einen Albtraum. Ich bleibe liegen, diesmal soll Mutter ihn trösten. Denn Anders hat recht, sie ist träge und versucht die Verantwortung auf mich abzuwälzen. Das lasse ich mir nicht mehr gefallen. Ich bin jung, und ich habe das Recht, jung zu sein, und deshalb habe ich auch das Recht, in meinem Bett zu bleiben, wenn es so spät ist und ich von meinem Freund träume.
Es dauert nicht lange, bis Mutter die Treppe herunterkommt und in Jacobs Zimmer geht. Allerdings bleibt sie nicht allzu lange, sondern nimmt Jacob mit in ihr Schlafzimmer. Ausnahmsweise darf er bei ihr schlafen. Dann ist es ganz ruhig im Haus. Es knarrt ein wenig unter den Bodendielen, tatsächlich klingt es, als würde eine Tür mit rostigen Angeln geöffnet und wieder geschlossen. Dann ertönt so etwas wie ein Knall; ich werde mich nie daran gewöhnen, ich schrecke jedes Mal auf. Aber natürlich ist es nur das Holz, das sich ausdehnt und zusammenzieht, das Haus arbeitet, alles hat eine natürliche Erklärung.
Ich schaue aus dem Fenster und finde es draußen so ruhig und friedlich. Und sonderbarerweise verspüre ich auch keine große Angst, als ich plötzlich in der Dunkelheit etwas Weißes auftauchen sehe, das über den Rasen auf mich zuzuschweben scheint. Es sieht aus wie eine weiße Maske. Nur muss es hinter dieser Maske ein Gesicht geben, und unter dem Gesicht einen Körper. Und ganz richtig: Jetzt zeichnen sich die Konturen eines Mannes mit kurzen krummen Beinen, breiten Schultern und langen Armen ab. Selbstverständlich ist es Anders, er hat sich nach mir gesehnt! Ich bin nicht einmal überrascht. Er tritt ans Fenster, jetzt hat die Maske sich in ein Gesicht verwandelt, in das liebste Gesicht, das ich kenne. Und es schaut mich an. Ich tue so, als würde ich schlafen, um den wunderbaren Moment noch ein wenig hinauszuzögern. Doch als er sachte an die Scheibe klopft, öffne ich sofort, und kaum ist er zu mir hereingeklettert, schlinge ich die Arme um seinen Hals. Lange schauen wir uns an, ohne ein Wort zu sagen. Dann küssen wir uns, und unsere Küsse haben längst nichts Suchendes mehr, im Gegenteil. Gleichzeitig sind seine Hände überall an meinem Körper, in den Haaren, dem Nacken, an den Brüsten, als wolle er sichergehen, dass alles noch an seinem Platz ist. Er presst seine Hüfte gegen meine und schiebt mich rücklings aufs Bett, legt sich auf mich. Ich bekomme Angst, es geht zu schnell. Erst müssen wir reden, ich muss ihn etwas fragen, außerdem sollte es erst an meinem fünfzehnten Geburtstag passieren. Aber unter dem Gewicht seines Körpers entspanne ich mich vollkommen. Warum eigentlich warten? Mir ist es egal, was sie über ihn
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