Kopfloser Sommer - Roman
Tassen liegen Spielkarten und Zeitungen auf dem Tisch, ich bemerke ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Mich wundert nur, dass die beiden im Sitzen schlafen – einer der Köpfe ist nach vorn gefallen, der andere liegt im Nacken. Sie sehen blass aus, ihre Kleidung ist schmutzig, es riecht säuerlich und muffig in dem Raum. Sind es Puppen? Aber eigentlich sehen sie ziemlich lebendig aus, vielleicht handelt es sich um Wachsfiguren? Mir kommt der Gedanke, dass alles nur ein einziges großes, von Anders erdachtes Puppenhaus ist. Könnte es eine Art Erweiterung des Gedenkzimmers sein? Ich erkenne die Puppen wieder. Anders hat nach den Fotografien seiner Eltern Kopien in natürlicher Größe hergestellt – das halte ich nicht aus, das ist ganz eindeutig krank. Er muss besessen sein von der Vergangenheit, jetzt bekomme ich wirklich Angst.
Ich gehe näher an sie heran, stupse den Mann sacht an, sein Kopf schaukelt ein wenig. Das Gesicht der Frau ist zur Decke gerichtet, die Augen sind geschlossen. Doch sie stößt ein leises Grunzen aus und ich zucke zusammen. Sie atmen! Es sind keine Puppen. Und sie sind beide gefesselt. An ihren Beinen hängen Eisenketten, die am Betonfußboden befestigt sind. Es sieht aus, als hätten sie schon lange hier gesessen, am Boden unter der Frau hat sich ein kleiner See gebildet. Riecht es nicht nach Urin? Ich muss hier weg, und zwar sofort, aber als ich mich zur Tür zum Gang umdrehe, höre ich hinter mir ein Husten. Ein Husten, das sich in die Ohren bohrt und mir mitteilt, dass ich die beiden nicht allein zurücklassen kann. Ob ich will oder nicht, ich muss mich umdrehen und versuchen, sie zu befreien.
Der Mann hat den Kopf gehoben und sieht mich an, mir ist schwindlig vor Schreck. Er stößt die Frau an, die mit einem Ruck erwacht. Sie bewegt ein Bein, die rostige Metallkette rasselt.
»Na, bist du endlich gekommen«, sagt der Mann. »Das wird aber auch Zeit, Emilie.«
Ich bin vollkommen gelähmt, es klopft so laut in meinen Ohren, dass ich kaum höre, was er sagt.
»Wer sind Sie?«, bringe ich schließlich heraus.
»Was, zum Teufel, glaubst du? Rate mal.«
»Anders’ Eltern?«
»Richtig! Und ich vermute, du kommst, um uns zu befreien.« Er sieht mich flehend an. Ich schüttele den Kopf, denn eigentlich bin ich nicht deshalb hier. Als ich die große Enttäuschung in seinem Blick sehe, nicke ich hastig.
Die Mutter hat sich in ihrem Stuhl aufgerichtet. Sie reden jetzt durcheinander, ich verstehe nichts, ich versuche herauszufinden, was hier eigentlich vorgeht. Erst dachte ich an Puppen, dann sind sie lebendig, und nun stellt sich heraus, dass sie wissen, wie ich heiße. Ich kann meinen Blick nicht von ihren Ketten abwenden. »Hat das wirklich Anders getan?«
Die Mutter seufzt und schaut weg, schämt sich offenbar deswegen. Der Mann ergreift das Wort.
»Tja, wir haben es jedenfalls nicht selbst gemacht. Und die Schlüssel hängen dort drüben.« Er zeigt auf ein Schränkchen an der Wand. Wie gelähmt starre ich die Frau an, die am Backenknochen einen blauen Fleck hat. Sie muss gefallen sein. Oder ihr hat jemand ins Gesicht geschlagen.
»Er ist wütend auf uns, Emilie«, erklärt sie. »Und wir konnten ihn nicht beruhigen. Er bestraft uns, allerdings wissen wir nicht, wofür. Wir sind der Ansicht, dass wir alles so gut wie möglich gemacht haben. Aber es war offenbar nichtgut genug.«
»Den Schlüssel«, wiederholt der Mann ungeduldig und zeigt wieder auf das Schränkchen. Ich öffne den Schrank, sehe aber keine Schlüssel.
»Wo denn?«
»Sie müssen dort sein, verdammt, das kann doch nicht so schwer sein.«
Ich suche und finde Chinaschach, Domino, Mikado und drei Würfelbecher. Außerdem zwei Handschellen und eine dicke Rolle Tape.
»Wozu braucht er denn die Handschellen und das Tape?«
»Um uns den Mund zuzukleben, wenn wir um Hilfe rufen. Was glaubst du, warum er in sein altes Zimmer gezogen ist, Emilie? Wohl kaum, weil er in deiner Nähe sein wollte. Nein, mein Schatz, er wollte in unserer Nähe sein. Wir sitzen direkt unter seinem Bett, und er hört, wenn wir zu viel Lärm veranstalten. Man kann viel über ihn sagen, aber er fühlte sich seinen Eltern immer sehr verbunden.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, zischt der Vater. »Er bewacht uns Tag und Nacht. Was ist jetzt mit den Schlüsseln?«
Ich suche weiter.
»Allerdings bedeutest du ihm auch etwas, Emilie, so ist das nicht«, fährt die Mutter fort. »Wir haben viel von dir gehört. Seid ihr ein Paar?« Ich
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