Kopfloser Sommer - Roman
Albtraum ist er jetzt nicht mehr in seinem Zimmer allein. Ich bin sicher, dass Anders ihr fehlt, allerdings spricht sie mit mir nie darüber. Sie will nach vorn schauen. Ich habe dafür volles Verständnis. Schließlich wurde sie im Gegensatz zu mir verschmäht.
»Ich habe mir gedacht, ein paar Tage zu verreisen«, sagt sie plötzlich eines Abends.
Für mich ist das keine große Überraschung, ich glaube, ich weiß, wohin sie will. Sie will mit Henriette in das Wellnesscenter. Fast jeden Abend unterhalten sie sich am Telefon darüber, Mutter hat sich bereits Unterlagen aus dem Internet ausgedruckt. »Wann?«, will ich wissen.
»Schon am nächsten Wochenende. Erst war alles ausgebucht, aber dann haben sie angerufen und gesagt, sie hätten ein paar Absagen. Wir müssen uns schnell entscheiden, sonst sind die Termine vergeben.«
»Dann schlag doch zu.«
»Ich wollte erst mit dir sprechen, Emilie.«
Was sollte ich denn dagegen haben? Obwohl ich mich um Jacob kümmern muss, bleibt Anders und mir doch abends mehr Zeit. Um keinen Verdacht zu erregen, tue ich allerdings nicht allzu begeistert.
»Wenn’s nur für’s Wochenende ist, okay.«
»Ich habe mit Vater geredet, er kann Freitag nicht. Aber er kann euch am Samstag zum Mittagessen abholen, dann könnt ihr bei ihm bleiben, bis ich am Sonntag wieder nach Hause komme.«
»Also sind wir nur einen Tag allein. Ich bin kein Kind mehr, Mama, und du musst mal ein bisschen raus. Lass dich verwöhnen.«
»Ja, danke.« Irgendetwas beunruhigt sie jedoch, und ichglaube zu wissen, was es ist.
»Die Sache mit Anders ist überstanden«, erkläre ich. »Ich habe keinen Kontakt zu ihm.«
»Bist du ganz sicher? Hat er nicht angerufen?«
»Nein, Mama, hör schon auf.«
»Ich ertrage es nicht, wenn jemand Geheimnisse vor mir hat. Vor allem nicht jemand, den ich mag. Du weißt, dass ich so etwas zur Genüge erlebt habe.«
»Ich weiß. Vertrau mir.«
Das sage ich tatsächlich, ohne mit der Wimper zu zucken, und sie glaubt mir. Hinterher erschrecke ich regelrecht über mich selbst. Ich liebe sie, obwohl sie hin und wieder ziemlich blöd ist, und dennoch lüge ich ihr direkt ins Gesicht. So etwas sieht mir überhaupt nicht ähnlich, werde ich zu einem schlechten Menschen? Die Geschichte mit Anders ist mir wichtiger als ein gutes Gewissen. Es ist einigermaßen erschreckend. Ich kann meinen Vater besser verstehen, ja, mir fällt es leichter, sein damaliges Verhalten zu verzeihen. Ich war dermaßen empört, doch inzwischen bin ich offensichtlich erwachsen geworden. Eigentlich ziemlich langweilig. Ich denke nur noch daran, wann Anders und ich das nächste Mal zusammen sein können.
Als Mutter ins Wochenende fährt, wird es still in dem großen Haus. Und es dauert nicht lange, bis Jacob mich fragt, wo er heute Nacht schlafen soll. Nachdem er sich an Mutters Schlafzimmer gewöhnt hat, will er nun bei mir schlafen. Daran hatte ich nicht gedacht. Wahrscheinlich wird es wenig nutzen, ihm den Wunsch abzuschlagen. Nur wird Anders mich gegen Mitternacht besuchen, wie verabredet. Ich muss ihn erreichen und rechtzeitig warnen.
Im Laufe des Nachmittags gehe ich mehrmals in den Garten und hoffe, ihn dort zu treffen. Aber er ist nicht da. Nachdem meine Eltern ihn hinausgeschmissen haben, lässt er sich nicht mehr blicken, jedenfalls nicht tagsüber. Er muss unter der Erde sein, und ich frage mich, was er dort macht. Es gibt doch nicht mehr als diese langen Gänge und dieses Gedenkzimmer. Ich gehe zum Brunnen und schaue hinein, wage aber nicht, ihn zu rufen ‒ aus Angst, dass Jacob mich hört.
Mutter hat uns mit Süßigkeiten und Leckereien für den Abend versorgt. Es soll uns an nichts fehlen, wenn wir allein sind. Wir schauen fern, und als Jacob in einen Zeichentrickfilm vertieft ist, laufe ich zum Brunnen. Ich entferne die Bretter, greife nach dem Seil und lasse mich hinunter. Rasch finde ich die Öffnung, die in den langen Gang führt. Ich habe Jacobs Taschenlampe mitgenommen. Hier unter der Erde wage ich, nach Anders zu rufen. Aber ich bekomme keine Antwort. Er wird überrascht sein, wenn ich ihn finde. Hoffentlich hat er nichts gegen Überraschungen.
Langsam bewege ich mich durch den schmalen Gang und finde es unheimlich hier unten. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Anders sich häufig hier aufhält. Er kann doch nicht den ganzen Tag in diesem Gedenkzimmer verbringen, versunken in seine Kindheitserinnerungen? Was macht er sonst? Sortiert er den alten Plunder, der ihm so wichtig ist,
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