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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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haben.«
    »Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich heute dort bin, wo ich bin.«
    Aus irgendeinem Grund wundere ich mich über diese letzte Bemerkung, vielleicht weil man so etwas doch allenfalls sagt, wenn man eine Rede auf seine Eltern hält. Wo ist Anders denn im Augenblick? In einem Loch unter der Erde.
    »Verstehst du, dass ich es dir erst zeigen konnte, nachdem es fertig war.«
    Ich nicke, denn er meint es gewiss ehrlich, und ich fühle mich auch ein wenig geschmeichelt, dass ich es als Einzige sehen darf. Aber ich finde es nach wie vor schade, dass es sich nicht um ein Liebesnest handelt, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich hatte auf einen Ort nur für uns beide gehofft, an dem wir zusammen sein könnten, ohne entdeckt zu werden. Andererseits bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das will, denn Anders wirkt schon sehr wunderlich.
    »Warum zeigst du mir das alles?«
    »Ich dachte, es wird Zeit, das Mysterium aufzuklären. Duhast ja gesehen, wie ich in den Brunnen geklettert bin.«
    »Sonst hättest du mir den Raum nicht gezeigt?«
    »Ich wusste nicht, was du dazu sagen würdest. Mir ist es schon etwas peinlich, dass ich einen solchen Ort brauche«, erwidert er und greift nach meiner Hand. Seine Stimme ist ganz ruhig, seine Hand warm. »Du musst versuchen, es zu verstehen. Es scheint dir vielleicht merkwürdig, aber es ist eine Form meiner Trauerarbeit, und so etwas braucht Zeit. Früher oder später bin ich darüber hinweg, dann kann ich mich voll und ganz auf dich konzentrieren.« Er lächelt mir aufmunternd zu.
    »Ich warte es gelassen ab.«
    Er stutzt einen Moment, wirkt verletzt, aber mir ist es egal. Schon möglich, dass ich mich ein wenig egoistisch verhalte, aber er hat schließlich selbst gesagt, das sei mein gutes Recht.
    »Ich auch«, erwidert er und lacht, und das Lachen hallt von den Wänden wider. Ich liebe sein Lachen und habe das Gefühl, nun ist er wieder der alte Anders.
    »Und das ist es?«, frage ich und sehe mich um. »Etwas anderes gibt’s hier unten nicht?«
    »Nein, das ist alles. Aber für mich bedeutet es sehr viel.«
    Er öffnet eine Pappschachtel und zeigt mir Fotos von seinen Eltern und ihm, als er ein kleiner Junge war. Ich schaue sie mir höflich interessiert an.
    »Es ist schwer, mit zweiundzwanzig Waise zu sein. Außer einer Tante auf Bornholm, zu der ich nie Kontakt hatte, habe ich keine Familie. Und es ist ein bisschen früh, selbst eine zu gründen.«
    »Da bin ich nicht so sicher«, entgegne ich. »Gab’s da nicht dieses Mädchen unter einem Baum? Wie hieß sie noch, Eva? Die mir ähnlich sah?«
    Ich finde, es klingt nach einem Angebot, aber er geht nichtsofort darauf ein. Er lacht und bekommt rote Wangen. Es gibt nichts Schöneres, als ihn in Verlegenheit zu bringen. Ich lege meine Hände um seine Hüften, drücke mich an ihn und küsse ihn auf den Mund. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich schäme mich, es zu sagen, aber ich habe Lust, auf der Stelle mit ihm zu schlafen.
    »Doch nicht hier«, erwidert er verärgert. »Doch nicht vor meinen toten Eltern.«
    Ich schäme mich und blicke zu Boden, ich weiß selbst nicht, wie es dazu kommen konnte. Anders starrt mich geradezu verächtlich an, und für einen Moment wirkt er beinahe bedrohlich. Ich erstarre, mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter – wenn er mir wirklich etwas Böses will, bin ich ihm ausgeliefert; niemand wird mich hier unter der Erde hören. Der Gedanke ist einigermaßen erschreckend, aber in gewisser Weise auch ein wenig erregend; er hat mich in seiner Gewalt. Doch dann wirft er den Fotos seiner Eltern eine Kusshand zu und reicht mir die Hand. Er ist wieder er selbst. Wir gehen den langen Weg zurück zum Brunnen, klettern durch das Fenster in mein Zimmer und kriechen unter die Bettdecke.
    Der Rest der Woche vergeht mit geruhsamem Familienleben am Tag und – zumindest bei mir – heimlichen Liebkosungen in der Nacht. Hin und wieder geht es über Zärtlichkeiten hinaus, aber wir benutzen Kondome. Ich habe das Gefühl, als hätte ich endlich Sommerferien. Die Quengeleien von Mutter und Jacob sind leichter zu ertragen, wenn mein Körper und meine Seele noch die Küsse und Berührungen der vergangenen Nacht spüren. Außerdem bin ich sicher, dass es so bald nicht aufhören wird. Zum ersten Mal seit langer Zeit kann ich im sogenannten Schoß der Familie entspannen.
    Ich glaube, Mutter kann nicht mehr allein schlafen, dennJacob darf jetzt jede Nacht bei ihr im Schlafzimmer verbringen. Bei einem

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