Kopfloser Sommer - Roman
oder sucht er neuen, den er an die Wand hängen kann? Eigentlich ist es schon ein bisschen krank. Ich verdränge den Gedanken und bewege mich weiter vorwärts. Hoffentlich freut er sich, mich zu sehen.
Als ich das Gedenkzimmer erreiche, finde ich nur die schwachsinnigen Fotos und brennende Kerzen. Ich setze mich vor das Bild der Mutter auf einen Schemel und schaue sie mir an. Sie sieht nicht aus wie jemand, dem man auf der Nase herumtanzt. Der Blick ist kühl, die Lippen aufeinandergepresst.Sie sitzt an einem Schreitisch, hinter ihr steht ein großes Bücherregal. Das Foto des Vaters wurde im Garten aufgenommen. Er trägt Arbeitskleidung und gießt ein Blumenbeet. Überhaupt sieht er fröhlicher aus und lächelt in die Kamera. Hinter ihm ist das Haus zu sehen, und wenn ich genauer hinschaue, kann ich das Fenster des Zimmers erkennen, das wir als Gästezimmer bezeichnen. Früher war es Anders’ Zimmer gewesen. Und tatsächlich sitzt dort jemand auf der Fensterbank. Ein Junge von sieben, acht Jahren. Er schaut zum Vater, aber er sieht weder glücklich noch traurig aus, eher ein wenig enttäuscht. Als hätte man ihn um etwas betrogen, als versuche er, sich damit abzufinden. Jacob sieht mich zuweilen mit dem gleichen Blick an, wenn ich versprochen habe, mit ihm zu spielen, dann aber doch keine Zeit habe.
Als ich aufstehe, um zurückzugehen, stoße ich den Schemel um, auf dem ich gesessen habe. Als ich ihn sorgfältig an seinen Platz zurückstelle, entdecke ich unter dem Foto der Mutter eine Klappe in der Mauer. Sie lässt sich öffnen. Der Eingang ist groß genug, dass ich beide Füße durchstecken und den Rest des Körpers nachziehen kann. Ich gelange in einen noch längeren und engeren Gang, schalte die Taschenlampe ein und will eigentlich auf der Stelle zurück. Überall Staub und Insekten, außerdem habe ich das Gefühl, als könnte jeden Moment alles einstürzen. Aber meine Furcht wird nur noch von meiner Neugierde übertroffen. Ich muss wissen, wohin dieser Gang führt. Sicher nicht zu einem geheimen Schatz. Aber zu irgendeiner Wahrheit über Anders und seinen Zeitvertreib hier unten.
Der Gang verzweigt sich noch mehr als der erste, es ist ein ganzer unterirdischer Komplex. Ein Labyrinth, das sich über große Teile des Gartens zu erstrecken scheint. Hin und wieder muss ich auf allen vieren kriechen, dann kann ich wieder aufrecht gehen. Ich erreiche eine kleine Treppe, die ein paar Stufen hinaufführt – alles ist aus Beton, aber noch immer gibt es kein Tageslicht. Rechts von mir ist ein kleinerer Raum, der auf den ersten Blick aussieht wie eine Werkstatt. Oder wie einer dieser Hobbyräume, die oft in den Kellern alter Häuser eingerichtet sind. Unter anderem steht dort eine alte Hobelbank, und irgendjemand muss sich in den Finger geschnitten haben, denn auf ihr sind getrocknete Blutflecken zu erkennen. Allerdings sehe ich weder Sägespäne noch Holz. Dafür liegen Seile und eiserne Ketten auf dem Boden, und an der Wand hängen vier Peitschen unterschiedlicher Länge. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Ich würde gern verschwinden, will aber erst alles sehen. Was zum Teufel ist das hier? Auf dem Boden liegt ein Pappkarton mit elektrischen Kabeln und Metallklammern, und als ich darin herumwühle, finde ich, um Himmelswillen, auch ein paar Dildos. Wieso liegen hier Dildos herum, sie passen so gar nicht hierher? Einer ist schwarz vor Ruß, als hätte ihn jemand über offenem Feuer erhitzt.
Ich laufe zurück zum Gang, ich will hier nicht länger bleiben. Als ich den richtigen Ausgang suche, höre ich Stimmen hinter einer Tür. Dort ist jemand. Ich lege mein Ohr an die Tür und lausche: Irgendjemand unterhält sich über Traumdeutung. Wirklich seltsam, wieso sitzt jemand unter unserem Garten in einem Erdloch und redet über Träume? Jetzt wird auch noch Kontrabass gespielt. Plötzlich wird mir klar, dass die Geräusche aus einem Radio kommen. Vorsichtig greife ich nach der Klinke und drücke sie hinunter. Als ich die Tür aufschiebe, knirschen die Angeln auf eine Weise, wie ich es schon einmal gehört habe. Es ist das Geräusch unter den Bodendielen meines Zimmers.
Eine einsame Glühbirne hängt von der Decke und erleuchtet den Raum. Zwei Menschen sitzen an einem Tisch. Es siehtvollkommen normal aus, und im ersten Moment bin ich erleichtert. Es sind richtige Menschen, die Kaffee trinken. Sie sagen nichts, sie sehen aus, als würden sie schlafen. Vorsichtig trete ich näher. Neben der Kaffeekanne und den
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