Kopfloser Sommer - Roman
Richtung. Anders schreit laut auf, lauter, als Jacob in seinen Albträumen je geschrien hat. Nur ist dies die Realität.
»Jacob, um Himmelswillen, was machst du denn da?«
Er sieht mich erschrocken an und versteht nicht, was er jetzt wieder falsch gemacht haben soll.
»Ich versuche doch nur, seinen Kopf wieder zurückzudrehen.«
Sein Vorhaben hat indes nicht die gewünschte Wirkung, im Gegenteil. Anders taumelt durchs Zimmer, rudert mit den Armen, um diesen verdammten Burschen zu erwischen, allerdings kann er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren und fällt zu Boden. Offenbar ist er auch nicht mehr in der Lage, allein aufzustehen, er gibt seltsame Gurgellaute von sich, zuckt mit einem Bein und bleibt dann regungslos liegen. Ich beuge mich über ihn und stelle fest, dass er noch atmet.
»Stirbt er jetzt?«, fragt Jacob.
»Jedenfalls muss er ins Krankenhaus«, sage ich und bin einigermaßen erleichtert. Jacob hat gerade unser Problem gelöst, wir sind gerettet. Ich gehe zu Mutters Schreibtisch, greife zum Telefonhörer und will die 112 wählen, aber es kommt kein Freizeichen. Ich renne in mein Zimmer, um nach meinem Handy zu suchen, wo zum Teufel ist es? Hat Anders es versteckt, um zu verhindern, dass ich um Hilfe rufe? Dann ist erselbst schuld. Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sehe ich, wie Jacob Anders traktiert, der in einer linkischen Haltung auf dem Boden liegt. Das rechte Bein ist bis zur Hüfte hochgezogen, die linke Hand hat sich im Teppich verkrampft. Jacob zieht an Anders’ Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite; offenbar versucht er, ihn einmal um die eigene Achse zu drehen.
»Hör auf damit!«
»Er leidet, Emilie. Wie der Vogel, der gegen’s Fenster geflogen ist und sich das Genick gebrochen hat. Er kann nicht weiterleben, er muss seinen Frieden bekommen.«
Wie paralysiert starre ich meinen kleinen Bruder an, seine Wangen sind ganz blass. Während er an Anders’ Kopf zerrt, ragt ihm die Zungenspitze aus dem rechten Mundwinkel, wie beim Malen. Anders’ Körper dreht sich, jetzt liegt er auf dem Bauch. Jacob springt ihm in den Nacken, fasst ihn mit beiden Händen in die Haare, reißt den Kopf nach hinten. Wieder knackt es. Ich stoße Jacob beiseite, denke, Anders muss doch längst tot sein, aber es steckt noch Leben in ihm, er stöhnt. Nicht mehr so laut, dafür aber ziemlich herzzerreißend. Er hat wirklich Schmerzen. Ich müsste Hilfe holen, stattdessen beuge ich mich über ihn.
»Wo ist mein Handy?« Er antwortet nicht, sondern schaut mich nur völlig hilflos an. Auch ich muss jetzt an den Vogel denken, der direkt an die Scheibe flog. »Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht telefonieren kann.«
Ich durchsuche seine Taschen, vielleicht hat er ja selbst ein Handy. Aber ich finde nichts. Eine Weile schaue ich ihn resignierend an. Sein Kopf sitzt seltsam verschoben auf dem Hals, ich versuche, ihn gerade zu rücken. Wieder schreit er, es ist schrecklich. Mir dreht sich der Magen um, ich kämpfe mit der Übelkeit. Offenbar wird es auch Jacob zu viel, denn plötzlichrennt er aus der Terrassentür in den Garten. Ich vermute, ihm ist klar geworden, was er angerichtet hat, und dass er dafür wahrscheinlich bestraft wird.
Ich laufe zur Haustür, ich muss einen Erwachsenen finden, aber wo? Ich sehe die leere Straße und überlege, bei Frau Larsen zu klingeln. Aber bei ihr brennt kein Licht mehr, außerdem ist sie schlecht zu Fuß, und es wird dauern, bis sie aus dem Bett ist. Ich laufe die Straße entlang, irgendwo muss doch jemand zu Hause sein. Dann höre ich erneut einen Schrei aus unserem Haus. Ich bleibe stehen und weiß einen Moment nicht, in welche Richtung ich laufen soll. War es Anders oder Jacob? Plötzlich bin ich unsicher, es klang eigentlich nach Jacob. Dann höre ich, wie die Motorsäge angeworfen wird. Was zum Teufel ist da los?
Ich renne so schnell zurück, dass meine Lungen schmerzen. Warum habe ich Jacob nicht mitgenommen? Ich werde es mir nie verzeihen, wenn Anders ihm etwas angetan hat. Als ich ins Wohnzimmer komme, kann ich kaum erkennen, was geschieht. Alles ist voller Blut.
»Jacob!«, schreie ich, dann sehe ich, dass er die Motorsäge in den Händen hält. Er trennt Anders den Hals ab, das Blut spritzt an die Wand, auch mein Bild mit den Wasserlilien hat etwas abbekommen.
Ich weiß, ich müsste meinen Bruder aufhalten, ich müsste ihm einen Stuhl oder sonst etwas an den Kopf werfen. Stattdessen laufe ich davon. Ich renne in den Garten, verstecke mich
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