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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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müssen Anders’ Eltern sein. Wenn sie sich von den Ketten befreien konnten, sind sie vielleicht ganz in meiner Nähe, möglicherweise sehen sie mich sogar. Vielleicht haben sie den Schädel gefunden, vielleicht ist er ihnen vor die Füße gerollt. Ich meine mit einem Mal, ein heiseres Stöhnen hinter mir zu hören, doch im Halbdunkel kann ich nicht viel erkennen. Ich habe genug damit zu tun, aus diesem Loch zu kommen. Jetzt bekomme ich eine Baumwurzel zu fassen und ziehe mich mit großer Mühe hinauf. Total erschöpft liege ich im Gras und ringe um Atem. Es ist ganz still, nur mein Puls klopft in den Schläfen. Ich liege auf dem Bauch, mit dem Ohr am Boden. Und plötzlich rasselt etwas unter mir, es könnten Eisenketten sein, gleichzeitig höre ich aber auch ein tieferes Rumpeln, am Bauch fühlt es sich wie ein kleines Erdbeben an. Dort unten stürzt alles ein ‒ ich schaue über die Schulter und sehe, wie der Brunnen im Boden versinkt. Ich komme auf die Beine und renne, so schnell ich kann, zurück zum Haus.

16
    »Wo bist du gewesen?«, will Mutter wissen, als ich zurückkomme. »Es ist nach eins, ich dachte, du schläfst schon.« Sie sitzen noch immer auf der Terrasse, plaudern und trinken Wein.
    »Ich bin ein bisschen spazieren gegangen. Habt ihr gesehen, es ist Vollmond.«
    Beide schauen zum Himmel, und ich nutze die Gelegenheit, um mich ins Wohnzimmer zu stehlen. Sie sollen mich nicht aus der Nähe sehen. Aber Mutter ist trotzdem schneller.
    »Es ist überhaupt kein Vollmond. Und wie siehst du denn aus? Du hast ja Erde im Gesicht, was ist passiert?«
    »Ich bin gestolpert«, sage ich, ohne mich umzudrehen.
    »Über deine eigenen Beine?«
    »Da war so ein komisches Geräusch, ich bin gerannt, so schnell ich konnte. Ich dachte, es wäre jemand hinter mir her.«
    Sie lachen und ich laufe zur Treppe, dort bleibe ich stehen und horche.
    »Wer in aller Welt sollte hinter dir her sein?«, ruft Mutter.
    Ich tue so, als würde ich sie nicht hören. Ich habe keine Lust, von der abrutschenden Erde oder dem verschwundenen Brunnen zu berichten. Anders’ Leiche liegt sicherer als vorher, und den Kopf bin ich auch los. Ob das gesamte Gangsystem eingestürzt ist? Was ist mit seinen Eltern, sind sie auch unter der Erde begraben?
    »So ist das, wenn man auf dem Land wohnt«, meint Vater. »Die Natur ist schön, aber nachts macht sie merkwürdige Geräusche. Und wenn man fällt, wird man dreckig.«
    Mutter gibt ihm recht; sie sprechen gedämpft, von den üblichen Streitereien immer noch keine Spur. Sie klingen fast wie damals, als ich klein war und sie sich noch geliebt haben.
    Vater findet den Garten wirklich schön. Die Büsche sind sehr fantasievoll beschnitten und die Blumenbeete hübsch bepflanzt. Man kann über diesen Anders ja sagen, was man will, aber vom Gärtnern versteht er etwas. Mutter räumt ein, dass er ein schwieriger Mitbewohner gewesen sei, sie ist dankbar, dass Vater sich der Sache angenommen und ihn rausgeworfen hat.
    Ich gehe ins Badezimmer, wasche mich und ziehe mich um. Eins ist klar: Mutter ist betrübt über die Sache mit Anders. Und ich auch. Denn seien wir doch mal ehrlich: Er war meine erste richtige Liebe, und dann erweist er sich als Monster! Seine einzige Entschuldigung ist, dass seine Eltern noch schlimmer gewesen sind. Wenn sie nicht bei dem Einsturz begraben wurden, finden sie vielleicht einen Fluchtweg. Ob sie zum Haus kommen werden?
    Ich gehe zurück zu meinen Eltern, die inzwischen ins Wohnzimmer umgezogen sind. Sie sitzen am Tisch und haben die Decken beiseite gelegt. Ich bleibe ein bisschen abseits, setze mich aufs Sofa und tue so, als würde ich in einer Zeitschrift lesen. Vater sieht nicht so aus, als hätte er es eilig, nach Hause zu kommen. Er erzählt von Birthe, sie war eine seiner Schülerinnen auf der Hochschule. Die erste Phase des Verliebtseins ist so gut wie vorbei, sagt er, jetzt fällt der Altersunterschied einfach deutlicher ins Auge. Und das ist durchaus ein Problem, das muss er zugeben.
    »Im Ernst«, sagt er, »sie kennt nicht einmal The Doors, und wenn ich deren Musik auflege, lässt es sie vollkommen kalt.«
    Am Wohnzimmertisch wird es still, ich glaube, auch Mutter ist entsetzt. Ehrlich gesagt wundere ich mich auch. The Doors, das ist total gute Musik, in ihrer retrohaften Art.
    »Was macht dein Gitarrenspiel?«, erkundigt sich Mutter.
    »Es ist miserabel, wem sollte ich denn vorspielen?«
    »Wenn du magst, kannst du deine Gitarre beim nächsten Mal

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