Kornmond und Dattelwein
Alna sprach, kamen dabei nur unzusammenhängende Fragmente heraus, und sie redete zu Personen, die außer ihr niemand sehen konnte. Als Inanna in dieses schmale und gelbe Gesicht einer alten Frau blickte, spürte sie, wie ihr Herz zu zerreißen drohte. Wie konnte so ein kleiner Körper nur solche Schmerzen ertragen? Inanna dachte jetzt häufiger an Dinge, die ihr früher nie in den Sinn gekommen waren. Vielleicht war der Tod ja eine besondere Gnade nach einem Leben voller Unverständlichkeiten, Schmerzen und entsetzlicher Kürze. Im Vorraum türmten sich unangetastet die Geschenke der Königin auf: Körbe mit Weintrauben, Limonen oder Melonen, Krüge voller gesüßtem Apfelsaft, Zweige voller Datteln, Decken, Kissen und ein ganzes Geschirr mit einem Vogelmuster. An jedem Morgen und an jedem Abend kam ein Bote der Königin, der stets dieselbe Frage stellte: »Wie geht es der königlichen Enkelin?«
»Sie liegt im Sterben«, antwortete die Kinderschwester am schlimmsten Tag; der Tag, an dem Alna an ihrer eigenen Zunge zu ersticken drohte.
Inanna fuhr die Kinderschwester wütend an: »Sag so etwas nie, nie wieder!« Sie tauchte einen Streifen sauberen Leintuchs in die Teeschüssel und zwang dem Kind einige Tropfen über die Lippen. So wenige von den blauen Blüten waren noch übrig. »Richte der Königin aus, daß ihre Enkelin sich auf dem Wege der Besserung befindet und daß sie bald wieder gesund sein wird.«
»Wie Ihr wünscht,
Muna«,
antwortete der Bote.
Die Erschöpfung zerrte an Inanna, als schwimme sie mit Steinflossen im Fluß. Fünf Tage schon hatte sie keinen Schlaf mehr gefunden, und immer noch tat Alna nichts anderes, als tiefer und tiefer ins Fieber abzurutschen. »Nein, richte der Königin nicht aus, daß sie sich auf dem Wege der Besserung befindet«, sagte sie. »Erkläre ihr, daß wir uns nach Kräften bemühen.«
Die Nacht brach herein, und die Lampen brannten rauchig und niedrig. Die Luft im Krankenzimmer war modrig. Alna atmete pfeifend. Ruhelos drehte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie trat sich von der leichten Decke frei und fiel dann in einen tiefen, wenig heilsamen Schlaf. Einer ihrer Arme hing schlaff vom Bett herunter. In dieser Nacht würde sich wahrscheinlich alles entscheiden, ob so oder so. Nun blieb nichts mehr zu tun für Alna.
»Ihr solltet Euch schlafen legen«, sagte die Kinderschwester, »sonst werdet Ihr auch noch krank.«
»Ich kann sie nicht allein lassen.«
»Dann will ich Euch ein Lager auf dem Boden herrichten.« Die Frau legte einige Decken aufeinander, und Inanna breitete sich dankbar darauf aus.
»So viele Jahre habe ich auf Decken auf dem Boden geschlafen«, erklärte Inanna, »und das auch noch in einem Zelt.«
»Habt Ihr das wirklich?«
Inanna schloß die Augen und legte sich lang hin. »Hast du jemals unter den Sternen geschlafen?« fragte sie nach einer Weile. Aber die Kinderfrau hatte das Zimmer bereits verlassen, und so blieb Inanna ohne Antwort.
Schlaf. Ruhig, kühl und traumlos.
»Mama!« Die Stimme schnitt durch ihren Schlaf, und Inanna war schon auf den Füßen, bevor sie die Augen richtig geöffnet hatte. »Mama!«
»Alna?«
Das Kind saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bett. »Ich habe geträumt, du wärst verschwunden.«
»Nein, mein Liebes, ich bin immer bei dir.« Sie berührte die Stirn des kleinen Mädchens, und sie war kühl und feucht. War das Fieber endlich gebrochen? Inanna sah in Alnas Augen. Sie waren klar.
»Mama, mach mehr Licht.« Die ersten sinnvollen Worte seit langem. »Ich mag es nicht so dunkel.«
Inanna schraubte die Dochte der Lampen höher und zündete si an. Dann nahm sie Alna in die Arme und drückte sie fest an sich »Du bist bald wieder ganz in Ordnung.«
Alna steckte den Daumen in den Mund, schloß die Augen und machte es sich auf der Mutter bequem. »Kriege ich dann endlich den richtigen Vogel?« wollte sie schläfrig wissen.
Inanna begriff, daß für das Kind keine Zeit verstrichen war. Di fünf Tage des Fiebers gab es für Alna nicht. »Ja, du bekommst einen richtigen Vogel.«
Am Ende des Trockenflußmondes war Alna wieder so gesund, da sie mit den anderen Kindern in den Palastgärten herumtolle konnte. Inanna sah ihrem Spiel zu, und für eine kurze Zeit war si rundherum glücklich. Aber in der Nacht, wenn die Kinder nicht mehr spielten und Inanna in ihrem Bett schlief, hatte sie manch mal sonderbare Träume. Sie stakte mit einem Boot über eine niedrigen Fluß, sammelte tote Fische ein und
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