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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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spüren. Der Eunuch räusperte sich unbehaglich. Selbst unter der Schminke war sein Gesicht unnatürlich blaß.
    »Seid vorsichtig«, warnte er, als er sie die Stufen hinunterführte, »hier ist es sehr glatt.« Das Böse wuchs mit jedem Schritt, wurde groß, kalt und glitschig wie der Rücken einer Echse. Inanna konzentrierte sich auf die Stufen. Eigentlich war nichts Ungewöhnliches an ihnen, bis auf den Umstand, daß sie entsetzlich kalt waren. Das Mauerwerk zu beiden Seiten war krude, aber fest, und bis auf ein paar Nischen, in denen vielleicht einmal Fackeln gehangen hatten, waren die grauen Steine der Wände ohne Lücke. Das Böse, kalt und eisig, wurde immer stärker und entzog ihr wie ein verführerisches Wispern alle Widerstandskraft. Sie hätte sich immer noch umdrehen und davonrennen können. Irgendwo rauschte Wasser, dann lag der Geruch von einem geöffneten Abwasserkanal in der Luft, dessen Inhalt sich nach draußen ergoß.
    »Bald sind wir da«, flüsterte der Eunuch. Sein Atem kam wie weiße Wölkchen aus dem Mund. Endlich hatten sie das Ende der Treppe erreicht. Zur Rechten teilte sich der Gang in fünf noch engere Passagen auf. Zur Linken erstreckte sich nur ein Tunnel. Er hatte doppelte Manneshöhe und bestand aus uraltem Mauerwerk. Seine Wände wurden in halbwegs regelmäßiger Folge von kleinen Höhlen unterbrochen, die mit weißen Gegenständen vollgestopft waren. Inanna brauchte einige Momente, um zu erkennen, daß es sich dabei um Knochen handelte.
    »Wo sind wir hier?«
    »Im Grabgewölbe unter dem Tempel.« Er kam ihr so nahe, daß sie den abgestandenen Weihrauchgeruch in seinen Kleidern und die Buttersäure auf seiner Haut riechen konnte. »Es heißt, die Gebeine der ersten Mütter ruhen hier unten irgendwo, aber niemand weiß das ganz genau.«
    »Ich dachte, du wolltest mich zur Hohepriesterin führen.«
    »Das tue ich ja auch, Verehrteste.« Alle Ehrerbietung war aus seiner Stimme geschwunden. Er sah sie an, als wäre sie ein ungezogenes Kind, das zu viele Fragen stellt. »Das tue ich ja auch.« Der Gestank hier unten raubte einem den Atem. So arg war ihre Nase noch nie angegriffen worden. Irgendwo hinter ihr sickerte Wasser in ein unsichtbares Becken. Wie tief unter der Stadt waren sie hier eigentlich? Etwa unter dem Fluß?
    »Hier.« Sie standen vor der letzten Höhle, und der Eunuch zeigte auf ein schmutziges, mit Exkrementen bedecktes Bündel. Im Bündel regte sich etwas, und dann sah Inanna etwas Weißes zwischen den Lumpen. »Seit der Königsknabe stranguliert wurde, hat sie diesen Ort nicht mehr verlassen«, flüsterte der Eunuch, nahm Inanna die Fackel aus der Hand und hielt sie hoch über dem Kopf, um die Höhle zu beleuchten.
    Eine nackte Frau mit langem weißem Haar hockte dort auf dem Boden und starrte blind auf die Fackel, während der Schein übe ihr Gesicht huschte. Er fuhr über ihre hohlen Wangen und spiegelte sich im harten Weiß ihrer Augäpfel wider. Inanna trat vor und schob sich an dem Eunuchen vorbei. Sie kannte dieses Gesicht. In Visionen und bösen Träumen war es ihr begegnet.
    »Hohepriesterin, ich habe Euch die Frau Inanna gebracht.« Rheti regte sich beim Klang der Stimme des Eunuchen, stützte sich auf die Hände auf und glitt aus ihrer Ecke, wobei sie sich mit den dürren Schultern an den Höhlenwänden orientierte. Arme wie Stecken, die Haut so weiß wie ein Fischbauch und das lange weiße Haar von Dreck verklebt. Sie strahlte das reine Böse aus. Etwas drang in Inannas Geist ein, etwas Kaltes und Unbestimmtes. Ein grauenhaftes Gefühl, so als würden einem alle Kleider in Streifen vom Leib gerissen. Sie hob eine Hand, um Rheti zurückzustoßen, und während sie das tat, kam es ihr so vor, als würde Licht, gelb und klar wie Sonnenschein, aus ihrer Handfläche strömen.
    »Ich habe keine Angst vor dir.« Das andere Etwas in ihrem Kopf löste sich auf, und Rheti blieb stehen. Inanna sah auf ihre Hand, konnte aber bis auf die Schatten der Fackel nichts darin erkennen. »Du hast das Sternenmal«, sagte Rheti mit der dünnen und kalten Stimme eines kleinen Mädchens. »Bring mir den Korb.« Ein Korb aus geschältem Schilfrohr stand in einer Ecke der Höhle.
    »Bring ihn ihr«, erklärte der Eunuch. Inanna starrte erst auf den Korb und dann auf Rheti. Wenn sie glaubten, sie hätte immer noch Angst, dann hatten sie sich aber getäuscht. Sie trug den Korb zur Hohepriesterin und ließ ihn vor sie hinplumpsen.
    »Hier.« Der Deckel des Korbs fiel hinunter. Schwarze,

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