Korona
Tiefe. Einen tiefen Atemzug nehmend, fasste sie sich ein Herz, dann rannte sie auf die andere Seite. Dicht neben ihr pfiff ein Pfeil durch die Luft. »Flach hinlegen«, schrie Ray, der ebenfalls herübergerannt kam. »Leg dich hinter die Reling, den Kopf aufs Deck.« Er zerschlug das Halteseil mit seiner Axt, dann legte er sich neben sie. Als Letzter kam der Affe. Mit einem gewaltigen Satz sprang er zu ihnen herüber und landete hart auf dem Deck. Das kleine Schiff schlingerte und taumelte. Der Sprung des Gorillas hatte ihm einen solchen Stoß verliehen, dass sich der Abstand zur Kriegsgaleone rasch vergrößerte. Die Planke rutschte ab, dann fiel sie ins Bodenlose.
Doch noch waren sie nicht außer Gefahr. Auf der Galeone waren hektische Aktivitäten ausgebrochen. Durch einen Spalt im Holz konnte Amy sehen, dass sich die Nachricht von der Befreiungsaktion wie ein Lauffeuer herumsprach. Plötzlich wimmelte es an Bord von Soldatinnen. In der obersten Etage wurde die Tür zu den kaiserlichen Gemächern aufgerissen. Die Herrscherin stürmte heraus und schleuderte ihren Kriegerinnen Befehle entgegen.
Amy konnte es kaum fassen. Diese Befreiungsaktion war das Halsbrecherischste, was sie je erlebt hatte. Nur wenige Sekunden später und sie wären von den Amazonen überrannt worden. Ein paar der Kriegerinnen eilten in Richtung des Bugs, wo sich eine Harpune befand. Ein Berg von blinkendem Metall, gefetteten Zahnrädern und dunkel schimmerndem Holz.
Eine entsetzliche Waffe.
Ray ergriff das Ruder, riss das längliche Paddel herum und steuerte das Schiff in eine steile Aufwärtsspirale. Es dauerte nicht lange, bis sie den Schuss hörten. Ein dumpfes Schwirren ertönte. Amy sah einen Schatten über sich hinwegzischen. Mit einem trockenen Knall schlug das Projektil durch ihr Segel und sauste dahinter in einem langgezogenen Bogen in die Tiefe. Das Seil riss ein Stück vom Segeltuch heraus, kappte einen Teil der Decksaufbauten und sauste dann in die Tiefe. Ihr Schiff taumelte und schaukelte wie ein Korken in einem Fluss. »Verdammt, das war knapp!« Ray warf einen besorgten Blick nach hinten. »Ein Glück, dass das Segel gerissen ist. Dieses Seil hätte uns glatt in die Tiefe gerissen. Machen wir, dass wir wegkommen. K’baa, das Segel.« Der Gorilla fackelte nicht lange und band das lose Segel mit einem Strick fest.
Es wurden noch ein paar Harpunen auf sie abgefeuert, doch sie stellten keine ernsthafte Gefahr mehr dar. Immer weiter fiel das kaiserliche Schiff hinter ihnen zurück. Schon bald war es nur noch ein dunkler Umriss, der von dem herannahenden Gewitter verschluckt wurde.
72
R ay lenkte das Boot zurück auf den alten Kurs. Er spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Sie hatten es wirklich geschafft, aber sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Hände zitterten.
Die Luft war merklich kühler geworden. Der Wind hatte aufgefrischt und der Himmel war mit dunklen Gewitterwolken überzogen, die rasch näher zogen. Ray konnte nur hoffen, dass ihr kleines Schiff den Naturgewalten standhielt, wenn das Unwetter sie erreichte.
Er fixierte das Ruder mit einem Riemen und richtete seinen Blick auf Amy. »Willkommen an Bord.«
Er nahm einen Lappen zur Hand und begann, die Farbe aus seinem Gesicht zu wischen. »Bitte entschuldige die Maskerade, aber mir fiel in der kurzen Zeit nichts Besseres ein. Ich hoffe, wir haben dich nicht allzu sehr erschreckt.« Er rieb über seinen Unterarm und die helle Haut kam zum Vorschein. »Wie geht es dir? Bist du unversehrt?«
Amy nickte.
Die Biologin sah mitgenommen aus. Müde, verschmutzt, das Hemd mit Blut besudelt – ein Häufchen Elend. Sie musste eine furchtbare Zeit gehabt haben.
Einer plötzlichen Anwandlung folgend, legte er den Lappen zur Seite, setzte sich neben sie und legte seinen Arm um sie. Sie erstarrte für einen Moment, dann drückte sie ihr Gesicht an seinen Hals. Ihr Körper bebte, als wäre ein Damm gebrochen. Tränen strömten über ihr Gesicht. Wie eine Schiffbrüchige klammerte sie sich an ihn und weinte und weinte.
Nach einer Weile wurde sie ruhiger.
Als sie ihn losließ, war ihr Gesicht ganz braun von der Farbe. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Jetzt habe ich dich schon wieder nass gemacht.« Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Augen. »Scheint langsam zur Gewohnheit zu werden.« Sie schniefte laut hörbar.
»Mach dir keine Gedanken«, erwiderte Ray. »Das trocknet.«
Sie lachte. »Du riechst übrigens furchtbar. Was ist das?
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