Korona

verlassen.
    Die beiden Krieger verknoteten die Seile zu einer Schlaufe, streiften sie der Botanikerin über den Kopf und verzurrten sie unter den Achseln. Dann forderten sie sie auf, über die Reling zu steigen. Mellie warf einen besorgten Blick in die Tiefe.
    »Komm schon, du packst das, Mellie«, rief Karl ihr aufmunternd zu. »Nur nicht nach unten sehen.«
    Die G’ombe packten die beiden Seilenden und ließen die Frau sanft in die Tiefe gleiten. Keine zehn Sekunden später war sie unten angekommen.
    »Jetzt du, Karl«, rief sie. »Es ist wirklich ganz leicht. Lass dich einfach fallen, es kann nichts passieren.«
    Karl warf einen besorgten Blick in die Tiefe. Ein Sturz aus dieser Höhe würde ihm vermutlich das Genick brechen.
    »Ich und mein großes Mundwerk«, murmelte er.
    Vorsichtig streifte er die Schlaufe über. Die Schulterwunde bereitete ihm immer noch Schwierigkeiten, aber er wusste, dass es jetzt kein Zurück gab. Wenn sie je wieder nach Hause gelangen wollten, so musste er jetzt die Zähne zusammenbeißen.
    Dann ging es über Bord. Er schwebte in der Luft, ein unangenehmes Gefühl. Noch unangenehmer wurde es, als das Schiff erneut zu schaukeln anfing und er wie eine Marionette hin und her baumelte. Einen atemlosen Moment später fühlte er jedoch sicheren Boden unter den Füßen. Ch’kun beugte sich über die Reling und warf ihnen ihr Bündel zu. Karl fing es in der Luft auf und legte es ab.
    Dann war der Augenblick des Abschieds gekommen.
    Die Gorillas hoben ihre Hände, dann drehte der Steuermann die Ausleger in den Wind und wendete das Schiff.
    Die Barke stieg höher und höher und verschwand schließlich hinter den Bäumen.

74
    D ie Wolken waren zu enormen Gebirgen angewachsen, aus denen unablässig Blitze hervorzuckten. Ein furchterregendes Grollen durchzog den Himmel. Ray stand am Bug und fragte sich, wie um alles in der Welt es ihnen gelingen sollte, dieses Hindernis zu überwinden? Sollten sie wirklich in dieses Chaos aus Licht und Schatten hineinfliegen? Es gab dort nichts, was ihnen bei der Orientierung helfen konnte. Die flirrenden Lichter machten es unmöglich, Wolken von Inseln zu unterscheiden, selbst für einen erfahrenen Segler wie K’baa. Der große Primat tat zwar so, als hätte er das schon hundertmal gemacht, aber vermutlich nur, weil er ihn beruhigen wollte. Er wusste, wie sehr die G’ombe das Reisen durch den Himmel verabscheuten.
    »Na dann los«, sagte er zu seinem Freund und klopfte ihm auf den Rücken. »Wir haben ohnehin keine Wahl.«
    Amy war, in eine Decke gewickelt, zu Boden gesunken und schlummerte in einer Ecke. Sie war am Ende ihrer Kräfte gewesen, gerade noch fähig, ein paar Bissen zu essen und dann die Augen zu schließen. Ray blickte auf sie hinunter, wie sie schlafend an Deck lag. Ihr Hemd war an einer Seite herabgerutscht und entblößte ihre nackte Schulter. Er sah, dass sie immer noch seine Ohranhänger trug.
    Mit einem traurigen Lächeln wandte er sich wieder der vor ihnen liegenden Aufgabe zu. Nicht mehr lange, dann würden die Energien der beiden Sonnen aufeinandertreffen und das erschaffen, was Wissenschaftler als
Einstein-Rosen-Brücke
bezeichneten. Ein Gebilde – landläufig auch als
Wurmloch
bekannt –, das so instabil war, dass ihnen nur wenige Minuten Zeit bleiben würden, um in den Ereignishorizont zu treten. Gelang ihnen das nicht, dann waren sie hier gestrandet.
    Für alle Zeiten …
    Unruhig starrte er in die Dunkelheit hinaus. Seine Augen huschten hin und her, auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt. Sie mussten jetzt sehr nah sein. Er vertraute auf sein Zeitgefühl, das ihm sagte, dass sie die benötigte Strecke längst zurückgelegt hatten. Aber wie sollten sie hier etwas finden?
    Plötzlich hielt er inne. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er etwas in der Ferne zu sehen geglaubt. Doch kaum versuchte er, es näher in Augenschein zu nehmen, war es auch schon wieder verschwunden. Könnte eine Täuschung gewesen sein. Vielleicht aber auch nicht.
    »K’baa, Licht aus, schnell!«
    Der Gorilla löschte die kleine Sturmlaterne, deren mattes Licht gerade ausreichte, um das Deck und die Passagiere anzustrahlen. Ray richtete seinen Blick wieder nach vorn. Was hatte er da nur gesehen? Verdammte Schaukelei! Es war so gut wie unmöglich, einen einzelnen Punkt zu fixieren. Um ihn herum brodelte und kochte die Atmosphäre.
    Auf einmal sah er es wieder. Backbord, leicht oberhalb ihrer derzeitigen Position. Ein schwaches Licht in der Dunkelheit.