Korona
Gangschaltung besaß und die meiste Zeit geschoben werden musste.
Gedankenverloren sah Ray den Menschen bei ihrer täglichen Arbeit zu, als plötzlich die Wolkendecke aufriss und einen Anblick von überirdischer Schönheit offenbarte. Majestätisch ragte ein grüner Berggipfel in den tiefblauen Himmel. Gekrönt von einer Spitze aus weißem Schnee, wirkte er, als wäre er nicht von dieser Welt. Einen Augenblick lang war er zu sehen, dann wurde er von der nächsten Wolke verdeckt.
Amy schien seine Gedanken erraten zu haben. »Haben Sie das gesehen?«
»Allerdings.«
»Der Ruwenzori liegt genau vor uns. Die
Montes Lunae,
wie sie im Altertum genannt wurden.«
»Die Berge des Mondes.«
Sie nickte. »Ein Römer namens Claudius Ptolemäus hat den Begriff geprägt. Ich glaube so um das Jahr zweihundert nach Christus. Wussten Sie, dass das Gebirge bereits in den Schriften des Aristoteles erwähnt wurde? Er nannte es
silberner Berg
und spekulierte, dass hier die Quellen des Nil zu finden seien.«
»Was ja auch stimmt.«
»Eine der Quellen, ja. Eine kulturell sehr interessante Gegend. Ihr Zentrum war das Königreich Kitara, dessen Wunder und Reichtümer auf unerklärliche Weise im Nebel der Geschichte verlorengegangen sind. Unter Archäologen gilt diese Kultur als Perle Afrikas. Sie reichte bis in die Bronzezeit zurück und erstreckte sich bis in das Gebiet der Königin von Saba – das heutige Äthiopien. Sogar in Ägypten soll man noch Spuren davon gefunden haben. Kitara war bekannt für seine immensen Goldvorräte, die ausreichten, um selbst das alte Jerusalem und König Salomon mit dem begehrten Edelmetall zu versorgen. Das rätselhafte Verschwinden dieser Hochkultur bereitet den Historikern bis zum heutigen Tage Kopfzerbrechen.«
»Es existiert doch immer noch ein Königreich, oder irre ich mich?«
Amy lachte. »Sie reden von Tooro, aber das ist nur ein Zwergenkönigreich. Sein Oberhaupt, ein knapp siebzehn Jahre alter König ohne jegliche politische Macht, erfüllt nur noch repräsentative Zwecke. Kein Vergleich zu dem Reich, das einmal über die Fläche mehrerer zentralafrikanischer Staaten geherrscht hatte.«
Ray spürte wie er unruhig wurde. Der Ruwenzori war so etwas wie der letzte weiße Fleck auf unseren Landkarten. Ein Gebiet, wie es fremdartiger und widersprüchlicher nicht sein konnte. An ihm schienen die Jahrmillionen spurlos vorübergegangen zu sein. Unverändert und unberührt von Menschenhand, hatte es die Zeiten überdauert. Genau wie ein Riese, der in eine Art Dornröschenschlaf gefallen war. Hier gab es Gletscher unter der Äquatorsonne, gefrorene Wasserfälle und Kaskaden von Rauhreif. Hier wuchsen Wälder in ewigem Nebel, die neben turmhohen Blumen um das Licht kämpften. Dazwischen lebten Menschen wie in der Steinzeit. Ureinwohner, die noch nie einen Weißen zu Gesicht bekommen hatten.
Und hier irgendwo sollte William Burke sein. Nun, kein einfaches Unterfangen, einen Mann in dieser Wildnis zu finden. Schlimmer als die sprichwörtliche Suche einer Nadel in einem Heuhaufen. Aber ob tot oder lebendig, Ray würde ihn finden. Das hatte er geschworen.
Schweigend blickte er nach draußen.
»Alles in Ordnung mit dir?« Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich zur Seite. Mellie sah ihn mit großen Augen an. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Was? … O nein, alles in Ordnung. Ich war nur gerade mit den Gedanken woanders.«
»Mit den Gedanken woanders«, sie schüttelte ihre roten Haare. »Ich möchte nicht sehen, wie du aussiehst, wenn du wirklich mal ein Gespenst siehst.«
»War es so furchtbar?«
Mellie öffnete den Mund und verdrehte die Augen. »Ungefähr so«, sagte sie mit einem Lachen.
Ray stimmte in das Lachen mit ein. Es war unmöglich, in Mellies Anwesenheit ernst zu bleiben. Sie hatte so eine frische, naive Art, bei der einem das Herz aufging. Bei ihr fühlte er sich so frei und unbefangen, dass es ihm beinahe gelang, die vergangenen Jahre für einen Moment zu vergessen.
Natürlich war ihm nicht entgangen, dass sie ihn mochte. Irgendwie schien sie einen Narren an ihm gefressen zu haben, wobei er beim besten Willen nicht verstand, wieso. Er selbst hielt sich für eher unattraktiv. Sein Gesicht war zerschlagen, er war blass, seine Umgangsformen grob und sein Humor bieder. Er mied die Nähe von Menschen, und wenn ihm nach Gesellschaft war, so suchte er sie eher bei einfachen Leuten. Was ein schlaues Mädchen wie Mellie an ihm fand, war ihm
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