Korsar meiner Träume
spürte, wie ihr Gesicht sich verzog. Sie hatte so lange versucht, sich zusammenzureißen, aber jetzt konnte sie es nicht mehr länger. Sie hatte weder die Stärke noch die Willenskraft dafür. Ihre Gefühle durchbrachen die Mauern, hinter denen sie sie zurückgehalten hatte, und brachen mit einer Flut von Tränen hervor.
Die Bäume um sie herum verschwanden in einem Nebel aus Grün. Der Geruch des Feuers verblasste ebenso wie der melodische Gesang der Vögel, die sich inmitten des Grüns versteckten. Es gab nur noch die Leere, die sie verschlang. Ihr Schluchzen trommelte gegen ihre Rippen, und Tränen liefen ihr über die Mundwinkel, als sie nach Atem rang. Sie wandte sich beschämt ab und schlug die Hände vor den Mund, weil sie die Kontrolle verloren hatte.
Die sanfte Berührung, die sie auf der Schulter spürte, machte alles nur noch schlimmer.
»Wir haben ihn auch geliebt«, sagte Alicia, und in ihrer Stimme schwangen Tränen mit.
Claire presste die Augen fest zusammen. Sie zweifelte nicht daran, dass die beiden wussten, dass Claires Tränen nicht nur Vincent galten, aber zum Glück hatte Alicia beschlossen, sich auf den offensichtlichsten Grund zu konzentrieren.
Es gelang Claire, zu nicken und sich ungeduldig die Tränen wegzuwischen. Tränen hatten noch nie etwas gebracht, hatte sie gelernt, und doch stand sie nun hier und lief aus wie ein sinkendes Schiff. Verdammt.
»Es ist schon besser.« Sie wischte sich noch einmal übers Gesicht und drehte sich dann um.
Alicia ließ ihre Hand dennoch auf Claires Schulter ruhen. Samantha beobachtete die beiden mit ruhigem Blick, dem nichts zu entgehen schien.
»Ich denke, es ehrt Vincent, wenn man um ihn weint. Es bedeutet, er wurde geliebt und war bedeutsam genug, dass man um ihn weint.«
Claire wurde von ihren Gefühlen schier überwältigt und konnte bloß noch nicken.
Samantha kam näher, hob ihre Röcke und trat Erde über das Feuer. Sie benutzte Claires Stock und durchmischte es, dann schaufelte sie mehr Erde darauf, bis nur noch eine dünne graue Rauchsäule zu den Baumwipfeln emporstieg. Dann sah sie Claire an.
»Hast du ein Kleid in deiner Tasche?«, fragte sie.
Claire spürte, wie ihre Wangen brannten.
»Nein, habe ich nicht.«
»Dann werden wir dir eins kaufen. In der Stadt gibt es ein Badehaus und einen Friseur.« Sie kam näher und berührte die Spitzen von Claires kurzem Haar.
»Es hat eine solch hübsche Farbe.«
»Ich kann nicht – ich werde nicht -« Sie seufzte, dann presste sie sich die Hand auf ihre wunden Rippen.
»Ich habe kein Geld, jedenfalls noch nicht.«
»Ich dachte, du wärst wegen des Angebotes beleidigt«, sagte Samantha.
»Sam hat die Angewohnheit, meist ziemlich direkt zu sein«, stimmte Alicia mit einem Grinsen zu.
Claire schüttelte den Kopf.
»Wie kann ich beleidigt sein, wenn ihr recht habt? Ich weiß, wie ich aussehe. Und ich will um Vincents willen besser aussehen, als so auf seiner Beerdigung zu erscheinen. Ich habe nur ganz einfach nicht die Mittel, etwas daran zu ändern.«
»Hat Nate sich geweigert, dir zu helfen?« Alicia stemmte sich die Faust in die Seite.
»Falls er das getan hat, dann werde ich -«
»Nein, nein, ich habe ihn nicht gefragt. Er hat genug um die Ohren.«
Alicias Blick wurde weicher.
»Wie wir alle. Er hätte dir geholfen. Es liegt in seiner Natur, anderen zu helfen.«
Claire dachte daran, wie er ihr seine Kajüte angeboten hatte, als sie verletzt war, wie er in die Grube gesprungen war, um ihr zu helfen, wie er sich um Vincent gekümmert hatte. Nate hätte ihr das Geld gegeben, wenn sie gefragt hätte. Aber sie hatte es nicht gewollt. Es tat weh, in seiner Nähe zu sein, und sie hatte bereits beschlossen, nach der Beerdigung so schnell wie möglich abzuhauen. Sie hatte Pläne mit ihrem Teil des Schatzes, die weder Nate noch irgendetwas auf dieser Insel beinhalteten.
»Ich weiß, wie es ist, unabhängig zu sein, gewohnt zu sein, die Dinge alleine zu tun«, bot Samantha mit einem verständnisvollen Lächeln an.
»Aber es kommt eine Zeit, in der man die Hand ausstrecken und akzeptieren muss, dass es Menschen gibt, denen du etwas bedeutest und die dir helfen wollen. Ich hoffe, du wirst es uns erlauben.«
»Es tut mir leid. Ich bin euch beiden dankbar, das bin ich wirklich. Ganz besonders, weil ihr mich nicht kennt, aber es bleibt die Tatsache, dass ich kein Geld habe.«
Samantha lächelte.
»Nun, das ist kein Problem. Ich habe zum Glück mehr, als ich brauche.«
Claire lehnte sofort
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