Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
wurde. Wesentlich interessanter erscheinen mir die Passanten. Alle sind schick gekleidet, und manche Frauen setzen modische Akzente durch ein Hündchen, ganz wie die Gattin unseres Feldherrn a. D. Kopftücher tauchen nur vereinzelt auf, und im Allgemeinen ist das Viertel hier mit dem Boulevard, den wir jedes Mal auf dem Weg von der Atatürk-Brücke zum Taksim-Platz hochfahren und dessen Name mir gerade nicht einfällt, nicht im mindesten zu vergleichen.
Als ich sehe, wie Murat aus dem Wohnhaus tritt, kehre ich zum Ausgangspunkt meines Spaziergangs zurück. An seiner Miene kann ich ablesen, dass er nichts Bedeutsames herausgefunden hat.
»Niemand weiß, ob Erdemoglu etwas mit Istanbuler Griechen zu tun hatte. Besuch hat er nur selten bekommen. Nur seine Söhne haben mit ihren Familien jedes Mal, wenn sie nach Istanbul kamen, bei ihm gewohnt.«
Nichts Auffälliges also. Der Gedanke, das Opfer könnte griechische Verwandte haben, und diese Istanbuler Griechen könnten wiederum mit der Chambou verwandt sein, so dass sie ein Tatmotiv hätte, wirkt hier dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass man schon sehr verzweifelt sein müsste, um da ansetzen zu wollen.
Wieder nehmen wir im Streifenwagen Platz. »Jetzt geht's zu seinem Laden«, sagt Murat. »Vielleicht kriegen wir aus dem Personal brauchbare Informationen heraus.«
»Und wie regeln Sie die Sache mit den Angehörigen?«, frage ich ihn.
»Das habe ich einem meiner Assistenten übertragen, der das ganz gut hinkriegt. Er hat nämlich von Natur aus einen tragischen Ausdruck im Gesicht. Genau das Richtige für Beileidsbekundungen bei Angehörigen von Verbrechensopfern.«
* 20
Wir lassen die Wohnviertel der braven Bürger hinter uns und kehren auf ein Terrain zurück, das mir sowohl geographisch als auch sozial besser vertraut ist. Doch Murat biegt nicht wie erwartet vom Taksim-Platz nach rechts ab, sondern umrundet ganz gemütlich den Platz und biegt in die Pera-Straße ein.
»Aber sind wir denn hier nicht in einer Fußgängerzone?«, frage ich verdattert.
Murat lacht auf. »Ja schon, aber Streifenwagen dürfen das.«
»Genauso wie die Straßenbahn.«
Er lacht immer noch, fast hört er sich glücklich an. »Jedes Mal, wenn mein Vater in den Ferien nach Istanbul kommt, fährt er Straßenbahn und stellt sich ganz vorne hin, gleich neben den Fahrer.«
»Stammt er aus Istanbul?«
»Natürlich nicht«, entgegnet er verdutzt. Ich weiß nicht, ob ich ihn vielleicht beleidigt habe, doch rasch klärt er mich auf. »Leute, die in Istanbul geboren und aufgewachsen sind, enden selten als Gastarbeiter. Meine Familie stammt aus einem Dorf östlich von Sivas und hat eine doppelte Emigration durchgemacht. Mein Großvater hatte fünf Kinder, und im Dorf gab es für ihn nichts zu holen. So ist er mit seiner Familie nach Istanbul gezogen. Damals sagte man auf den Dörfern, die Häuser und Straßen Istanbuls seien aus purem Gold, und mein Großvater glaubte es. Mein Vater war damals noch klein und freute sich, wenn er in die Straßenbahn einsteigen und neben dem Fahrer stehen durfte. Doch beide, zunächst mein Großvater und dann auch mein Vater, mussten einsehen, dass die Häuser und Straßen in Istanbul aus Stein und Asphalt bestanden, genau wie in allen anderen Städten auch. Die Suche nach Arbeit brachte meinen Vater schließlich nach Deutschland. Jetzt ist er Rentner und lebt in Bochum, aber jedes Mal, wenn er uns besuchen kommt, fährt er Straßenbahn.«
Vis-ä-vis von der katholischen Kirche parkt er ein. »Hier wären wir.«
Kemal Erdemoglus Laden ist groß und geht über zwei Etagen. Doch ein kurzer Blick in das Schaufenster genügt, um mich davon zu überzeugen, dass er nicht zu den führenden Fachgeschäften des Viertels zählt. Die Auslage ist vollgestopft und nicht einheitlich, sondern dreigeteilt. Die beiden Fenster links und rechts sind der Damenkonfektion vorbehalten, während das mittlere Herrenmode zeigt.
Murat geht voran, und ich folge ihm. Die Verkäuferin neben der Tür ahnt sogleich, dass ich Tourist sein muss, und nähert sich mit einem » Yes, please?«. Murat blafft sie in missmutigem Bullentonfall an, und die Verkäuferin weicht vor Ehrfurcht und Angst einen Schritt zurück. Das lässt mich vermuten, dass er mich wohl als ausländischen Kollegen vorgestellt hat, daher erachte ich es als selbstverständlich, mich an seine Fersen zu heften. Der einzige männliche Angestellte
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