Kraft des Bösen
seine Städte im Norden gegründete
Ich habe die großen Städte des Nordens immer gehaßt: ihren Gestank nach unpersönlichem Wahnsinn, die Düsternis von Kohlequalm und Ruß und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das die schmutzigen Straßen und die gleichermaßen unreinen Bewohner umgibt. Ich war stets der Meinung, der sichtbarste Aspekt von Ninas langwährendem Verrat war die Tatsache, daß sie den Süden zugunsten der kalten Straßenschluchten von New York aufgegeben hat. Ich hatte nicht die Absicht, bis New York in den Norden zu gehen.
Ein plötzliches, kurzes Schneegestöber verbarg den deprimierenden Anblick, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Innern des Busses zu. Die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs sah von ihrem Buch auf und bedachte mich mit einem freundlichen Lächeln, dem dritten, seit wir die Vororte von Washington hinter uns gelassen hatten. Ich nickte und strickte weiter. Ich überlegte bereits, ob die schüchterne Dame mir gegenüber - eine Frau, die möglicherweise Anfang Fünfzig war, aber einen Eindruck altjüngferlicher Altersschwachheit vermittelte, als wäre sie zwanzig Jahre älter - nicht Teil der Lösung meines Problems sein könne.
Eines meiner Probleme.
Ich war froh, daß ich Washington hinter mir hatte. In meiner Jugend hatte mir diese verschlafene Stadt mit dem südlichen Flair gefallen; sogar bis zum Zweiten Weltkrieg hatte sie die Aura entspannter Konfusion behalten können. Aber heute erfüllte mich der marmorne Insektenstock von einer Stadt mit Gedanken an ein prätentiöses Mausoleum voll emsiger, machthungriger Insekten.
Ich sah hinaus in das Schneetreiben und konnte einen Augenblick nicht sagen, was für einen Tag oder Monat wir schrieben. Der Tag fiel mir zuerst ein - Donnerstag. Dienstag und Mittwoch nacht hatten wir in einem schäbigen Motel einige Meilen vom Zentrum von Washington entfernt verbracht. Am Mittwoch ließ ich Vincent den Buick in die Gegend des Capitol fahren, abstellen und zu Fuß zum Motel zurückkehren. Es war ein Fußmarsch von drei Stunden, aber Vincent beschwerte sich nicht. Er würde sich auch zukünftig nie wieder beschweren. Dienstag nacht ließ ich ihn sich um gewisse notwendige persönliche Einzelheiten kümmern, wozu wir einfaches Nähgarn und eine Nadel benützten, die ich über einer Kerzenflamme erhitzte.
Die Einkäufe, die ich am Mittwochmorgen im Einkaufszentrum tätigte - ein paar Kleider, ein Morgenmantel, Unterwäsche -, waren um so deprimierender im Vergleich zu den schönen Sachen, die ich in Atlanta verloren hatte. Ich hatte immer noch fast neuntausend Dollar in meiner absurden Strohtasche. Selbstverständlich stand wesentlich mehr Geld in Schließfächern und Sparkonten in Charleston, Minneapolis, Neu-Delhi und Toulon zur Verfügung, aber ich hatte derzeit nicht die Absicht, den Versuch zu unternehmen, an diese Guthaben heranzukommen. Wenn Nina von meinem Konto in Atlanta gewußt hatte, mußte sie auch von den anderen wissen.
Nina ist tot, dachte ich.
Aber ihre >Gabe< war die stärkste von uns allen gewesen. Sie hatte einen von Willis Handlangern benützt, um sein Flugzeug zu zerstören, während sie auf ein Schwätzchen bei mir saß. Ihre >Gabe< war unglaublich, furchteinflößend. Sie erreichte mich möglicherweise sogar aus dem Grab und wuchs noch an Macht, während Nina Draytons Leichnam in seinem Sarg verweste. Mein Herz fing an zu rasen, ich betrachtete über die Schulter die Gesichter, die in den düsteren Reihen der Bussitze zu sehen waren .
Nina ist tot.
Es war ein Donnerstag, genau eine Woche vor Weihnachten. Also der achtzehnte Dezember. Das >Wiedersehen< hatte am zwölften Dezember stattgefunden. Äonen lagen zwischen diesen beiden Daten. In den letzten beiden Jahrzehnten hatte mein Leben wenig äußerliche Veränderungen erfahren, abgesehen von den notwendigen Genüssen, die ich mir gegönnt hatte. Jetzt hatte sich alles verändert.
»Entschuldigung«, sagte die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs, »ich bewundere so sehr, was Sie da stricken. Wird es ein Pullover für ein Enkelkind?«
Ich drehte mich um und schenkte der kleinen Frau mein strahlendstes Lächeln. Als ich noch sehr jung war, bevor ich herausfand, daß es vieles gab, was eine junge Dame einfach nicht tat, ging ich oft mit meinem Vater angeln. Das erste Zucken der Leine, die ersten zaghaften Bewegungen des Schwimmers fand ich stets am aufregendsten. In diesem Augenblick, wenn der Haken sich noch nicht verfangen hatte, war
Weitere Kostenlose Bücher