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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Fahrscheine für den Nahverkehrszug Chestnut Hill bis zur Chelten Avenue löste. Während der Busfahrt hatte sie mir von ihrem hübschen Heim in Germantown erzählt. Obwohl sie erwähnte, daß die Stadt in den letzten Jahrzehnten durch den Zustrom von >unerwünschten Elementen< heruntergekommen war, hatte ich mir Germantown doch als deutlich ab gegrenzt von der Einöde aus Backstein und Schmiedeeisen vorgestellt, die Philadelphia war. Mitnichten. Das karge Nachmittagslicht vor dem Zugfenster zeigte Reihenhäuser, verfallende Backsteinfabriken, durchhängende Geländer, schmale Straßen mit den Metallkadavern stillgelegter Automobile, unbebaute Grundstücke und Neger. Abgesehen von einigen Fahrgästen im Zug und weißen Gesichtern in den Autos auf der Schnellstraße, die parallel zu den Schienen verlief, schien die Stadt fast ausschließlich von Negern bewohnt zu sein. Ich saß erschöpft und niedergeschlagen da und betrachtete durch das schmutzige Zugfenster Negerkinder, die auf Brachgrundstücken herumliefen und mit ihren kleinen schwarzen Gesichtern aus schmutzigen Parkas blickten, Negermänner, die auf ihre dumpfe und bedrohliche Art durch kalte Straßen schlurften, dicke Negerfrauen, die gestohlene Einkaufswagen schoben, Schemen von Negergesichtern hinter dunklen Scheiben ...
    Ich lehnte den Kopf an die kalte Fensterscheibe und unterdrückte den Wunsch zu weinen. Mein Vater hatte recht gehabt, in den letzten sonnigen Tagen vor dem Großen Krieg, als er prophezeite, daß das Land vor die Hunde gehen würde, wenn die Farbigen das Wahlrecht bekämen. Sie hatten aus einer einst großen Nation die abfallübersäten Ruinen ihrer eigenen trägen Verzweiflung gemacht.
    Hier würde Nina mich nie finden. In den vergangenen Tagen war ich wahllos herumgereist. Wenn ich eine Woche oder mehrere Wochen bei Anne verbrachte - auch wenn es bedeutete, in diese Grube arbeitsloser Farbiger hinabzusteigen -, würde dies ein weiteres Element der Zufälligkeit einem ohnedies schon zufälligen Muster hinzufügen.
    Wir stiegen an einer städtischen Haltestelle namens Chelten Avenue aus. Die Schienen verliefen zwischen steilen Betonwänden, die Stadt ragte über uns auf. Plötzlich hatte ich Angst und war zu erschöpft, die Stufen zur Straße hinaufzugehen, daher mußte ich mich auf eine unbequeme gallefarbene Bank setzen und ein paar Minuten ausruhen. Ein Zug ins Stadtzentrum zurück brauste an uns vorbei. Eine Gruppe farbiger Teenager stürmte die Treppe hinauf; sie schubsten sich gegenseitig und alle, die ihnen in den Weg gerieten. Ich konnte in der Ferne Straßenlärm hören. Der Wind war schrecklich kalt. Schneegestöber tauchte aus dem Nichts auf und wehte in unseren betonierten Wartebereich. Vincent zuckte weder zusammen, noch machte er die Windjacke zu.
    »Wir nehmen ein Taxi«, sagte Anne.
    Ich nickte, stand aber erst auf, als ich sah, wie zwei Ratten so groß wie Katzen aus einem Riß in der Betonmauer auf der anderen Seite der Schienen kamen und in den Abfällen und ausgetrockneten Rinnsteinen dort zu wühlen anfingen.
    Der Taxifahrer war schwarz und mürrisch. Er verlangte zuviel für die Fahrt von acht Blocks. Germantown war eine Mischung aus Sandstein, Backstein, Neon und Reklametafeln. Auf der Chelten Avenue und der Germantown Avenue drängten sich Autos, reihten sich billige Geschäfte aneinander, dazwischen die Pockennarben von Bars, und alles war vom menschlichen Abschaum bevölkert, der allen Städten im Norden gemeinsam ist. Aber auf der Germantown Avenue rumpelten richtige Straßenbahnen dahin, und zwischen Banken, Bars und Ramschläden fand man gelegentlich ein schönes altes Haus eingequetscht, ein aus Backsteinen gemauertes Geschäft aus dem vorigen Jahrhundert oder einen winzigen Park mit schmiedeeisernen Gittern und geschnittenen Hecken. Vor zwei Jahrhunderten mußte dies ein kleiner Ort mit anmutigen Sandsteinhäusern und eleganten Farmern und Kaufleuten gewesen sein, die beschlossen hatten, sechs oder zehn Meilen von Philadelphia entfernt zu leben. Hundert Jahre früher mußte es eine ruhige Stadt gewesen sein, eine Zugfahrt von wenigen Minuten von Philadelphia entfernt - immer noch eine Stätte mit Charme und schönen Häusern an grünen Alleen, und ab und zu einem Gasthaus an der Straße. Heute hatte Philadelphia Germantown verschlungen, wie ein riesiger, gründelnder Karpfen einen schöneren, aber kleineren Fisch verschlingen würde, so daß lediglich die perfekten weißen Knochen seiner Vergangenheit

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