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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ging hundert Schritte voraus, bog nach rechts in einen schmaleren Seitenarm ein und blieb unter einem Gully stehen. Er versuchte mit seinen kräftigen Armen, das Gitter wegzudrücken. Saul blinzelte im grauen Licht, konzentrierte sich darauf, das Schwindelgefühl auf Distanz zu halten, und steckte die Hand in die Manteltasche, wo er den kalten Griff des Skalpells spürte, das er eingesteckt hatte, als Luhar den Zeitzünder für die Sprengladung im Koffer einstellte.
    »Ah, endlich«, keuchte Luhar und schob den Gullydeckel beiseite. Er hatte noch beide Arme erhoben. Die Jacke des großen Mannes hing offen und entblößte Bauch und Brust unter dünnem Stoff. Saul nahm sich zusammen, sprang mit dem Skalpell und stellte sich ein Ziel für die Klinge irgendwo neben der Wirbelsäule des Mannes vor.
    Jensen Luhars linker Arm schoß pfeilschnell herab, eine gewaltige Pranke schloß sich um Sauls Unterarm, die Klinge kam sechs Zentimeter über dem Brustbein des Mannes zum Stillstand. »Tss, tss«, sagte Luhar. Mit der rechten Hand schlug er auf Sauls blutenden linken Arm. Saul stöhnte und sank auf die Knie, während rote Ringe vor seinem schrumpfenden Gesichtsfeld tanzten. Luhar nahm das Skalpell behutsam aus Sauls schlaffer rechter Hand. »Böse, böse, mein kleiner Jude«, flüsterte er. »Auf Wiedersehen.«
    Das Licht wurde einen Moment verdeckt, dann war Luhar verschwunden. Saul kniete in der Dunkelheit, senkte die Stirn mehrere Minuten über Wasser und kalten Stein und kämpfte, bei Bewußtsein zu bleiben. Warum? dachte er. Warum wach bleiben? Schlaf eine Weile.
    Sei still, herrschte er sich selbst an.
    Nach einer Ewigkeit stand er auf, hob den unversehrten Arm dem Gitter oben entgegen und versuchte, sich nach oben zu ziehen. Er brauchte fünf Versuche, und die Jeans waren nach den Stürzen tropfnaß, aber schließlich kroch er ins Sonnenlicht hinaus.
    Der Hochwasserablauf lag hinter einem Müllcontainer ein Dutzend Schritte in einer schmalen Gasse. Er kannte die Straße nicht, auf die er stolperte. Reihenhäuser erstreckten sich einen langen Hügel hinauf.
    Saul schaffte es einen halben Block weit, dann übermannte ihn das Schwindelgefühl. Er blieb stehen und hielt sich den linken Arm. Die Wunde war aufgebrochen. Blut tränkte die dicke Jacke, lief an seinem Arm hinab und sog die ganze linke Seite des Mantels voll. Er sah in die Richtung, aus der er gekommen war, und lachte, als er die deutliche Spur roter Tropfen erblickte. Er preßte den Arm zusammen und lehnte sich stolpernd an die Fensterscheibe eines leerstehenden Ladens. Der Gehweg hob und senkte sich wie das Deck eines kleinen Schiffes bei rauher See.
    Es wurde dunkel. Schneeflocken glommen wie Glühwürmchen vor einer fernen Straßenlaterne. Eine große, dunkle Gestalt kam auf Sauls Straßenseite den Hügel heruntergelaufen. Saul stolperte rückwärts in den Eingang des Ladens, glitt an der rauhen Wand hinunter, zog die Knie hoch und versuchte, so unsichtbar zu sein wie jeder Penner, der je in diesem Torbogen Unterschlupf gesucht hatte.
    Gerade als der Mann vorbeiging, spürte Saul, wie etwas anderes im Muskelgewebe seines linken Arms riß. Er packte zu und biß die Zähne zusammen, bis deren Knirschen deutlich zu hören war. Der Mann, der etwas Schweres, Metallisches in der rechten Hand trug, ging vorbei.
    Saul spürte Schwärze, die die Oberhand gewann, während die Schritte ein paar Meter bergab hielten und dann langsam zurückkehrten. Saul drehte sich nach links und fühlte nur vage, wie sein Kopf gegen die Tür stieß. Sein linker Arm brannte, und er konnte spüren, wie Blut auf Handgelenk und Hand floß.
    Der Strahl einer Taschenlampe blendete ihn. Der große Mann beugte sich über ihn und verdeckte die Straße, die Welt. Saul ballte die rechte Faust und bemühte sich, über dem kreisenden Mahlstrom der Bewußtlosigkeit zu bleiben. Eine schwere Hand schloß sich um seine rechte Schulter.
    »Gütiger Gott«, sagte eine langsame, vertraute Stimme. »Saul, sind Sie das?«
    Saul nickte und spürte, wie sein Kopf weiter nach vorn kippte, das Kinn die Brust berührte und er die Augen zumachte, während die leise Stimme weiter Worte aussprach, die er
    nicht verstand, und die kräftigen Arme von Sheriff Bobby Joe Gentry ihn hochhoben und so mühelos trugen, wie man ein schlafendes Kind tragen würde.

30. Kapitel
     
    Germantown: Dienstag, 30. Dezember 1980
     
    Gentry fragte sich, ob er den Verstand verlor. Während er zum Community House zurückrannte,

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