Kramp, Ralf (Hrsg)
den Medien entnommen hatte, doch sein Ruf als Brutalo war damit zementiert. Er selbst sah sich als absolut gewaltfreies Verbrechergehirn. Ihn überforderte es, aus der Lamäng heraus eine Entscheidung fällen zu müssen, bei der es um Menschenleben ging. Die Geiseln kauerten – bis auf die ohnmächtige Holländerin und ihren greisen Mann – immer noch in der Ecke unter der Kaffeemaschine und zitterten. Mit Ausnahme der lockigen Kinder, die es
langweilig
fanden.
Als die Holländerin aufwachte, schüttelte Thea Greif den Kopf und schloss ihr wieder die Augen. »Keine Angst, wir bringen Sie hier heraus«, flüsterte sie der Frau ins Ohr.
»Ich habe keine Angst. Ich bin auf Diät und bei Unterzucker versagt mir schon mal der Kreislauf«, flüsterte die Holländerin zurück. Ihr Mann zuckte nur mit den Schultern.
Paul Pieper bekam von all dem nichts mit. Er behielt die Bullen im Auge, die sich vermehrt zu haben schienen. Außerdem war ein Übertragungswagen des SWR vorgefahren und filmte.
»Ich will freien Abzug!«, schrie Paul durch das geschlossene Fenster.
»Ich glaub, man hört Sie draußen nicht«, meinte Thea Greif und pustete sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht. Sie kauerte immer noch neben der Holländerin und betupfte ihr die Stirn mit einem feuchten Tuch. »Sie sollten das Fenster wieder öffnen.«
Paul tat es. »Ich will freien Abzug! In einem Hubschrauber!«, röhrte er. »Mit Piloten!«, fiel ihm noch ein. Nicht, dass die Bullen dachten, er könne fliegen. »Ich nehme Geiseln mit, die kranke Alte und zwei Kinder und lasse sie erst frei, wenn ich in Sicherheit bin!« Er schloss das Fenster wieder und wollte sich ein Black Vanilla Zigarillo anzünden. Rauchen beruhigte ihn. Und wehe, einer meckerte, dem würde er ...
»Rauchen macht impotent«, meldete sich Klein-Kevin zu Wort.
Pieper funkelte ihn böse an.
Kevin zeigte mit einem Finger auf die Zigarillo-Verpackung. »Steht da. Ich kann schon lesen!«
Pieper rollte mit den Augen.
Da erst fiel ihm die Tafel oben an der Decke auf. Die Künstler, die zuletzt auf der Bühne des cafés aufgetreten waren, standen dort verzeichnet. »Chris Howland war hier?«, Paul strahlte. »Ich liebe Chris Howland!«
»Wollen Sie nicht doch einen Arzt kommen lassen? Ich glaube, der Frau geht es nicht gut! Und die Kinder stören doch hier nur«, schlug Thea Greif vor. Sie wollte möglichst viele Geiseln in Sicherheit wissen.
»Hier kommt keiner rein und keiner raus!«, schrie Paul und weil er das Gefühl hatte, dass sich jemand an der grünen Hintertür zu schaffen machte, schoss er grob in diese Richtung. Er schoss eins der Fotos von der Wand.
Mist! Es war sein eigenes Doppelporträt!
Vor Schreck löste sich noch ein Schuss. Dieses Mal erwischte es den Korb mit den zauberhaften Speisekarten des Cafés. Jede einzelne Karte ein Unikat und von der Chefin selbst kalligrafiert.
Paul Pieper fluchte.
»Das darf man nicht sagen, das ist unartig«, konstatierte Kevin. Und fügte hinzu: »Ich muss mal strullern.«
Pieper seufzte. »Also gut, die Alte und die Kleinen können wegen mir ins Krankenhaus.« Und damit die anderen nicht dachten, er würde weich, brüllte er noch: »Aber dann ist keiner mehr da, bei dem ich Hemmungen hätte, ihn zu erschießen, damit das klar ist! Beim kleinsten Mucks mach ich euch alle kalt!« Er fuchtelte mit der Waffe und natürlich löste sich wieder ein Schuss.
Das Display mit den Kuchenfotos fiel getroffen vornüber.
Die Polizisten vor dem Café drängten beim bereits verständigten SEK um größere Eile, die Bevölkerung der Ortschaft wurde aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und Ruhe zu bewahren.
Epilog: Das Leichenbegängnis
Um die verdammten Rotzlöffel zu beschäftigen, erlaubte Paul ihnen, den zerfledderten Speisekarten und den zerschossenen Kuchenfotos ein Wasserbegräbnis zukommen zu lassen. So eine Geiselnahme war zeitaufwändig und im Grunde nichts für Kinder.
Die Kleinen wickelten die Foto- und Speisekartenschnippsel in Servietten ein und ›begruben‹ sie in der rechten Kabine der Damentoilette, genauer gesagt, spülten sie im Klo runter. Das würde eine deftige Verstopfung geben, aber Klempner wollten ja auch leben.
Es war eine ergreifende Zeremonie. Einer der Motorradlederbürsten war im wirklichen Leben evangelischer Pfarrer und hielt eine flammende Rede über erlegte Fotos und deren Weiterleben in einer besseren Welt.
Paul, der sich auf dem Weg zum Klo den Kopf an der niedrigen Decke angestoßen hatte und
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