Kramp, Ralf (Hrsg)
verändert, wird er es erkennen. Und zu mir zurückkommen. Ich weiß um die dunklen Seiten seiner Seele, die Schwächen, die Unwuchten. Und ich liebe das alles. Vorbehaltlos. Ohne Bedingungen. Immer.
Sie jagt ihn von einem Sport zum nächsten. Meinen Jochen, dessen einzige Kraftanstrengung es bisher war, den Bierkasten für das Wochenende in den Wagen und von dort aus in den Keller zu tragen. Ein Mann eben. Kein Schickimickiheini, zu dem sie ihn mit den Designerklamotten, der neuen Frisur und den Theaterabenden machen will. Joggen, Krafttraining, Fahrradfahren. Sogar zum Reiten hat sie ihn hier schon gezwungen, ohne auf seine heimliche Angst vor Pferden Rücksicht zu nehmen. Sie kennt ihn nicht. Sie lässt ihn hungern. Sie liebt ihn nicht. Nicht so wie ich. Niemand kann so lieben wie eine Mutter.
Ein Stapel gefällter Bäume liegt in ausreichender Entfernung vom Haus im Wald. Ich lehne mich an die Stämme. Sie geben mir Halt und Sicherheit. Ihr Geruch ist freundlich. Warm und erdig. Die Gardine am Schlafzimmerfenster bewegt sich, und ich ducke mich. Aber alles bleibt ruhig im Haus. Trotzdem muss ich achtsam sein. Sie schläft nicht so lange wie Jochen. Sie sei nun mal ein Frühaufsteher, hatte sie mir lachend gesagt, als ich gemeint hatte, Jochen habe Ringe unter den Augen, die bestimmt auf Schlafmangel zurückzuführen seien. Es hatte mich unendlich viel Überwindung und Mühe gekostet, mich zu beherrschen. Mühe, die sie sich nicht gibt. Nicht einen meiner Tipps wollte sie annehmen. Nicht zum Kochen, nicht zur Haushaltsführung, nicht zu Jochens Vorlieben und nicht dazu, wie er die Dinge gewohnt ist. Ich will doch nur sein Bestes.
Endlich geht das Licht an. Erst im Schlafzimmer, dann im Wohnzimmer der Hauses. Wie Schattenrisse sehe ich Jochen und sie, wie sie sich durch die Zimmer bewegen. Manchmal verschwinden sie aus meinem Blickfeld. Das Haus ist groß. Über neunzig Quadratmeter. Küche, zwei Badezimmer und drei Schlafzimmer. Viel zu viel für zwei Personen allein. Was für eine Verschwendung. Sie hätten mich mit ihnen darin wohnen lassen können. Aber das wollte sie nicht.
Mit einem Schwung reißt sie die Tür zur Terrasse auf und kommt aus dem Haus. Ihre schmalen Hüften sind in einen engen Rock gezwängt, sie reckt sich und schmiegt sich an Jochen, der von hinten an sie herangetreten ist und sie umarmt. Sie legt den Kopf in den Nacken und küsst ihn. Dann schaut sie sich um, flüstert etwas in sein Ohr. Er lacht und nickt. Mein Herz krampft sich zusammen. Falsche Schlange.
Sie fassen sich an den Händen und laufen die Treppen hinauf, ohne die Terrassentür hinter sich zu schließen. Ich balle meine Hände zu Fäusten und versenke sie in den Taschen meines Bademantels. Schlampe. Es kümmert sie nicht, wenn eingebrochen wird, während sie beim Frühstück sitzt. Was ist mit der Uhr, die ich Jochen zur Hochzeit geschenkt habe? Was ist, wenn sie gestohlen wird? Langsam trete ich hinter dem Holzstapel hervor und nähere mich dem Haus. Niemand ist in der Nähe. Ein Luftzug trägt Jochens Geruch bis zu mir hinaus. Nur einmal kurz nach dem Rechten schauen. Es muss ja niemand merken.
Mein Herz klopft, als ich die Gardinen zur Seite schiebe und den Raum betrete. So, als ob ich etwas Verbotenes tun würde. Ich sehe mich um. Kleidungsstücke liegen verstreut auf dem Boden, und für einen Moment bin ich versucht, sie aufzuheben und Ordnung zu schaffen. Dann erstarre ich und lasse das T-Shirt wieder dort fallen, wo es gelegen hat. Sie darf nichts merken.
Auf dem Nachttisch neben dem Bett steht eine Schachtel Pralinen. Meine Pralinen. Ich habe ihn verloren.
Tränen schießen in meine Augen und ich merke, wie meine Knie nachgeben. Das Bett fängt mich auf, und Jochens Geruch umgibt mich, als ich meinen Kopf auf sein Kissen lege. War ich mir bisher nicht sicher, so sind jetzt alle Zweifel beseitigt. Sie muss weg. Heute. Ich werde sie töten.
Meine Hand findet wie von selbst den Weg in die Pralinenschachtel, und wie immer hilft mir die Schokolade meine Gedanken zu ordnen. Sie schmilzt auf meiner Zunge, verteilt ihr bitteres Aroma und gleitet sanft meine Kehle hinunter. Ich muss eine Möglichkeit finden, die Jochen nicht gefährdet und keinen Verdacht aufkommen lässt. Sie allein erwischen. Es wie einen Unfall aussehen lassen. Jochen Trost und Stütze sein, wie ich es immer war. Er wird sie schnell vergessen. Wie ihre beiden Vorgängerinnen. Eine weitere Praline verschwindet in meinem Mund und ich habe eine Idee. So
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