Krampus: Roman (German Edition)
Schatten zu verbergen. Sie ließ Jesse stehen und ging weiter.
Er lief ihr nach.
»Das gibt ihm trotzdem nicht das Recht, dich zu seiner Sklavin zu machen.«
»Es ist anders. Du würdest es nicht verstehen.«
»Weil es keinen Sinn ergibt.«
»Abgesehen davon bin ich kein Monster, sondern eine Frau. Wenn du nicht so ein Holzkopf wärst, würdest du das auch begreifen.«
Jesse hob die Hände. »So habe ich das nicht gemeint.«
Isabel beschleunigte ihren Schritt, um ihn abzuhängen.
»Komm schon, Isabel. Lauf nicht weg. Es tut mir leid.«
»Ich habe versucht mich umzubringen, kapiert? Ohne Krampus wäre ich längst unter der Erde.«
»Was? Warum wolltest du dir so etwas antun?«
»Das geht dich nun wirklich nichts an, oder?«
Er runzelte die Stirn und nickte. »Du hast recht, tut mir leid.«
Sie blieb nicht stehen.
»Ich wollte meine Nase nicht in deine Angelegenheiten stecken«, sagte er. »Ich versuche nur, mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Ganz ehrlich, es tut mir leid.«
Isabel wurde langsamer und sog tief die kühle Nachtluft ein. »Ich hatte mich in eine üble Lage manövriert. Irgendwie schien alles immer schlimmer zu werden. Ich wollte wohl einfach einen bequemen Ausweg, weiter nichts.«
»Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen.«
Sie gingen schweigend weiter. Isabel wollte noch weiterreden, sie sehnte sich danach, mit jemand anders als Vernon und den Shawnees zu sprechen, mit jemand Jungem, mit jemandem, der klare, mitfühlende Augen hatte. Aber es war ihr nie leichtgefallen, anderen ihr Herz auszuschütten, und diesen Mann kannte sie nicht einmal. Nur, weil er ein warmes Lachen und gütige Augen hatte, bedeutete das nicht, dass man ihm vertrauen konnte. Außerdem erzählte man nicht einfach einem Wildfremden, dass man mit sechzehn schwanger geworden war, wenn man nicht als Dorfschlampe dastehen wollte. Dabei war das Ganze nicht bloß eine billige Nummer gewesen. Das hätte es vielleicht einfacher gemacht. Hastig blinzelte Isabel die Tränen fort, die ihr in den Augen brannten. Fang bloß nicht damit an. Lass es ruhen, Mädchen. Sie war immer wieder überrascht, wie sehr es noch wehtat, selbst nach all den Jahren. Sie versuchte, nicht an ihr Kind zu denken, das ohne seine leibliche Mutter aufgewachsen war. Wäre sie stärker gewesen, dann wäre sie jetzt vielleicht bei ihm.
»Ich bin mit sechzehn von zu Hause weggelaufen, von allem. Ich konnte nicht klar denken, und irgendwie bin ich hier in den Hügeln gelandet. Es war Winter und kalt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich all meine Fehler wiedergutmachen sollte. Also bin ich an einen Steilhang gegangen und habe auf den felsigen Grund hinuntergespäht. Da unten war meine Antwort … die Antwort auf all den Schmerz und die Reue.« Isabel stellte fest, dass sie weinte. »Ich wünschte, ich wäre damals bei klarerem Verstand gewesen. Aber ich habe mich so mies gefühlt wegen allem, was passiert war … so was von mies. Ich wollte einfach nur, dass es nicht mehr wehtut.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Sorry, ich wollte dich nicht volllabern.«
Jesse legte ihr einen Arm um die Schultern. Isabel hatte sich von niemandem berühren lassen, nicht auf diese Art, nicht seit über vierzig Jahren. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
»Ich habe zu den Sternen aufgeblickt«, sagte sie, »den lieben Gott angefleht, mir zu vergeben, und bin über die Kante getreten.«
»Himmel, Isabel.«
»Ich hätte mir einen höheren Hang suchen sollen, denn der Sturz … hat mich nicht umgebracht.« Sie stieß ein niederträchtiges Lachen aus. »Ich habe mir bloß fast alle Knochen gebrochen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, habe bloß dagelegen und geschrien. Der Schmerz war wirklich schrecklich.« Sie rückte von Jesse ab und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Am Ende haben mich die Shawnees gefunden und mich zu Krampus gebracht. Wahrscheinlich habe ich mir bei der Aktion mehrere Wirbel gebrochen, ich konnte nämlich nur noch einen Arm bewegen und hatte kein Gefühl mehr von der Hüfte abwärts. Die Welt um mich herum verschwamm langsam. Ich glaube, ich lag im Sterben. Da hat Krampus mich gebissen.«
»Gebissen?«
»M-hm. So macht er das. Dadurch verwandelt er einen. Nach allem, was er erzählt, hat es damit zu tun, dass das Blut sich vermischen muss. Wie auch immer, jedenfalls hat er mir das Leben gerettet. Er hat mich geheilt. Nach etwa zwei Tagen konnte ich wieder
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