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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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Ursache des Todes meines Mannes – Nierenversagen.
    Bei meinen zahlreichen Anrufen beim ärztlichen Direktor hing ich lange in der Warteschleife, wurde aber nie durchgestellt. Hätte ich alles das kommen sehen, hätte ich lieber meine Nachbarn um Hilfe gefragt, anstatt zuzulassen, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Heute mache ich mir schwere Vorwürfe und habe jetzt schon Angst vor einem solchen unwürdigen Sterben.«
    Das ist die bittere Realität: Menschen, die nur noch Kostenfaktor sind, werden teilweise menschenunwürdig abgefertigt, werden hungrig und durstig in einer Ecke stehen gelassen, werden angeschnallt, wenn sie aufmucken, und mit Spritzen still gemacht, wenn sie sich beklagen. Und wenn sie tot sind, bekommen die Angehörigen noch nicht einmal eine gescheite Antwort auf die Frage, woran der ihnen liebe Mensch gestorben ist.
    Der Pfleger einer Klinik formuliert den täglichen Druck auf der Station so: »Als Mitarbeiter in einem Krankenhaus muss ich sagen, die Situation wird immer und immer schlimmer. Von der Pflegedienstleitung haben wir die Anweisung bekommen, uns unsere personelle Situation nicht anmerken zu lassen. Wenn wir eine Überlastungsanzeige wegen Überarbeitung machen wollen, werden wir von unserer Leitung abgehalten. Die Drohungen aus der Verwaltung erledigen den Rest, und wir schweigen. Die Reduzierung der Stellen auf ca. ein Drittel wie vor einem Jahr lässt uns vor Existenzangst verstummen. Im Nachtdienst bin ich für 35 oft schwerstkranke Patienten und Patientinnen zuständig. Ich kann die Arbeit nicht schaffen und schon gar nicht kann ich diesen Patienten gerecht werden. Alles, was der Tagdienst nicht schafft, muss der Nachtdienst erledigen. In einem Personalmeeting wurde uns vonseiten der Verwaltung gesagt: ›Wem er nicht passt, der kann ja gehen, es gibt genug Arbeitslose, die auf Einstellung warten!‹«

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11. Inhumane Einsparungen II
    Der Mann ohne Ohren
    N ach nunmehr über 50 Jahren hat er sich daran gewöhnt, dass er »der Mann ohne Ohren« ist. Geboren wurde er als ein durch das Präparat Contergan geschädigtes Kind. Über 50 Jahre musste der Mann mit Behinderungen leben, bei denen die nicht vorhandenen Ohren nur ein Teil seiner Probleme darstellten. Verursacher all seiner Leiden war das Pharmaunternehmen Grünenthal und die Tablette, die Zigtausenden von Menschen einen Strich durch die Rechnung eines normalen Lebens machte.
    Man muss nur einmal mit einem dieser in die Jahre gekommenen »Contergankinder« sprechen, um zu erfahren, wie schwierig ihre gesundheitliche Versorgungslage gerade in den letzten Jahren geworden ist. In einem Alter um die fünfzig ist es normal, dass eine Sehhilfe, sprich Brille, notwendig wird. Aber für den Mann ohne Ohren wurde sein Ansinnen zu einem kleinen Horrortrip. Betrachten wir uns einmal seinen Kampf mit der Krankenkasse! Der Augenarzt stellte die Sehschwäche und Dioptrienzahl fest. Und er verschrieb ihm – ohne auch nur eine Sekunde lang zu überlegen – Kontaktlinsen! Angesichts der angeborenen Behinderung des Mannes kommt kein normal denkender Mensch auf die Idee, dass irgendjemand an dieser Verordnung des Arztes Anstoß nehmen könnte. Doch bei den Feinheiten deutschen Verordnungswesens sollte man besser das Denken erst einmal abstellen. Richtig ist: Wir alle kommen auf die Welt und haben Ohren, sofern man eine Standardausführung Mensch ist. Heißt in der Logik der Krankenkasse: Der Contergan-Geschädigte ist nicht Standard; folglich ist er in der Hilfsmittel-Richtlinie unter der Rubrik »Sehhilfen« nicht als berechtigter Leistungsempfänger gelistet. Die Kontaktlinsen lehnt die Kasse ab. Genehmigt wird hingegen eine Brillenkonstruktion mit Gummiband, vergleichbar einer Taucherbrille. Was man eben als Nichtstandardisierter so braucht. Brille ohne Gummiband geht nicht – mangels Ohren. Kontaktlinsen stehen nicht in Verordnung. Also Gummibrille oder gar nichts.
    Ein ehemaliger Krankenkassenchef ist 2010 wegen Untreue und Bestechlichkeit zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Der Ex-Vorstandsvorsitzende einer BKK soll fünf Jahre Leistungen für seine Familie und den Verwaltungsratsvorsitzenden der Kasse erstattet haben. Dabei ging es um mehr als eine halbe Million Euro.
    Dieser Fall von dreister Arroganz, Dummheit, Indolenz und Machtgehabe ließ meinen Adrenalinspiegel innerhalb von Sekunden in die Höhe schnellen! Wie ein Kurzfilm raste an mir die öffentliche Diskussion um die Contergan-Geschädigten und ihr Kampf um ein paar

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