Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Krankheitsbilder, die ihren Zuständen ähnlich waren. So stieß sie bei den Recherchen auf eine Behandlungsmethode, von der ihr mehrere Ärzte bestätigten, dass bei 75 Prozent aller Patienten eine wesentliche Besserung und sogar Heilung eingetreten sei. Doch die Krankenkasse teilte ihr mit, die Voruntersuchungen für die Behandlungsmethode und die Medikamente seien zu teuer. Man wäre zwar bereit, die eigentliche Therapie zu bezahlen, weil es aussichtsreich erscheine, dass sie eine Besserung bringt, aber für die nötigen Voruntersuchungen könne man nicht aufkommen. Mit bitterem Unterton erzählt Sandra vom Hickhack in diesen Tagen, dem Feilschen um eine konkrete Hoffnung. Nein, ließ sie die Kasse wissen, man werde auch nicht für die Verlegung in diese Klinik, die auf dieses Krankheitsbild spezialisiert ist, aufkommen. Ihr Hausarzt stand ihr bei, kämpfte wie ein Löwe für sie. »Sandra, wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, den es in Ihrer Situation noch gibt.«
Immer häufiger wurde Sandra operiert. Bald reichte bei einer Operation die normale Dosis Narkosemittel nicht mehr aus. Das führte dazu, dass sie nach jeder OP auf die Intensivstation kam, weil ihre Lunge versagte. Die ganze Situation steigerte sich, weil sie teilweise jeden dritten Tag operiert wurde und dadurch körperlich massiv abbaute. Eines Morgens erlitt Sandra einen anaphylaktischen Schock, eine extrem starke allergische Reaktion, die zum kompletten Versagen des Herz-Kreislauf-Systems führen kann. Es stellte sich heraus, dass sie auf ein verabreichtes Medikament und dessen Wirkstoff überreagiert. In dieser ausweglos erscheinenden Situation entschied sie sich für die Sterbeklinik in der Schweiz.
»Keiner konnte mir sagen, ob mir noch zu helfen ist«, bekennt Sandra. »Mein größtes Problem mit meiner Erkrankung war, dass mich viele Kliniken einfach abwiesen.« Sandra hat mir einen ganzen Packen mit Unterlagen mitgebracht. Gemeinsam gehen wir sie durch. In den Briefen tauchen immer wieder Worte wie »bedauerlicherweise« oder »leider« auf. Manchmal liegen noch die hastig aufgerissenen Umschläge bei den Unterlagen dabei. Ein Brief von der Klinik! Neue Hoffnung? Schnell lesen! Wieder einen Absage! Es muss der Horror für sie gewesen sein. Sandras Erzählungen bringen immer neue Verletzungen zutage. Ein Arzt, der seine Hilflosigkeit mit Zynismus kaschierte fragte sie nach dem 35. chirurgischen Eingriff, ob ihr die Operationen langsam Spaß bereiten würden. War sie eine Weile irgendwo in Behandlung, ließ man sie spüren: »Schon wieder die. Geh woandershin, du bist hier nicht erwünscht!« So empfand Sandra es zumindest. »Meine Verzweiflung«, sagt sie, »wurde von Eingriff zu Eingriff größer.« Sie fühlte sich bald nur noch als Belastung für ihr komplettes Umfeld, auch die Familie. Sie sank in tiefe Depression. Antidepressiva wurden ihr verabreicht. Rosa Pillen gegen eine nachtschwarze Wirklichkeit. Das Karussell drehte sich weiter.
So baute sich das auf, bis zu diesem Punkt, an dem sie eines Tages glaubte, allen einen großen Gefallen zu tun, wenn sie sich von dieser Welt verabschiedet: »Ich klammerte mich an den Gedanken: Wenn sie mich beerdigen, dann freuen sich alle!« Und genau das wünschte sie sich: Keine »Belastung« mehr zu sein, mit dem endgültigen Abgang ihrem Umfeld einen Gefallen zu tun. Der schwarze Gedanke nahm sie gefangen und gab ihr eine perverse Art von neuer Kraft. So entstand der Kontakt zum Schweizer Sterbeunternehmen.
Die ganze Aktion scheiterte (aus meiner Sicht: Gott sei Dank) jedoch daran, dass das Sterbeunternehmen die Abtretung ihrer Lebensversicherung verlangt. Sandra konnte das geforderte Bargeld für die »Dienstleistung« nicht aufbringen. »Dann hätte sich ja mein Wunsch für meine Familie nicht erfüllt«, hängt Sandra merkwürdig krausen Überlegungen nach. »Welchen Wunsch?«, möchte ich wissen. »Ja, dass sie sich freuen, endlich ohne diese kranke Mutter weiterleben zu können!« – »Ich verstehe nicht!« – »Ja, dann hätten sie doch gesagt, dass ich mir meinen Wunsch auf Kosten meiner Hinterbliebenen erfülle.«
Zeichnet man Sandras Leidensweg nach, sieht es fast so aus, als habe sich tatsächlich die komplette Welt gegen sie verschworen. Mit besonderem Interesse verfolge ich den Schriftwechsel mit der Krankenkasse. Der glänzt nicht gerade durch Einfühlsamkeit, wird harscher, unwilliger, förmlicher, amtlicher, je länger der Fall sich als scheinbar unlösbar darstellt –
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