Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Euro Schadensersatz durch den Kopf. Mir fiel der Film »Contergan« ein, der hervorragend das Problemfeld in der breiten Öffentlichkeit thematisierte. Aber mir fiel auch ein, dass die Täter nie verurteilt wurden. Hochkarätige Anwälte verschleppten die juristische Auseinandersetzung, damit durch eine Mischung von Verjährung und natürlichem Ableben der Betroffenen nur noch ein Vergleich übrig blieb.
Immerhin leben in Baden-Württemberg noch 2800 durch Contergan geschädigte Menschen. Sie kämpfen täglich mit den Folgeschäden dieses Pharmaskandals, um nur einige zu nennen: psychische Probleme, Gelenkprobleme, Haltungsschäden wegen zu kleiner oder nicht vorhandener Gliedmaßen. Seit mehr als 50 Jahren werden diese Menschen Tag für Tag jeden Tag aufs Neue mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert: »Ich bin nicht wie die da. Ich bin behindert und muss schauen, wie ich damit zurechtkomme!« Ein Leben lang müssen sie die Blicke der Mitbürger ertragen, die nicht immer freundlich sind. Manche fühlen sich durch die Gegenwart eines behinderten Menschen gestört. Es gibt Klagen von Urlaubern, denen die Lebensqualität abging, weil ein »Contergankind« den gleichen Pool benutzen wollte wie sie. Auf genau dieser Linie der hartnäckigen Fühllosigkeit liegt die Entscheidung der Krankenkasse, diesem Contergan-Geschädigten Kontaktlinsen zu verweigern. Nun hatte der Wahnsinn im vorliegenden Fall auch noch Methode: Die behördlich verpasste, superschicke Taucherbrille, im Kassenjargon Sehbrille, brachte ein neues Problem mit sich. Das Gummiband löste eine Unverträglichkeit aus, und rund um den Kopf verlor das Contergan-Opfer nun aufgrund der Allergie auch noch die Haare.
In solchen Fällen fällt mir unser Grundgesetz und der Artikel 1 ein: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Im gleichen Atemzug schäme ich mich für diese Gesellschaft. Ändern wird sich nichts, solange wir nicht für die Betroffenen aufstehen. Im Schulterschluss müssen wir denen die Stirn zeigen, die solche Entscheidungen treffen. Für diejenigen, die es ruhiger wollen, reicht vielleicht ja schlicht und ergreifend ein Kassenwechsel, aber bitte mit so viel Zivilcourage, dass bei der Kündigung die Begründung – unmenschliches Verhalten gegenüber einem Contergan-Opfer – ganz fett gedruckt geschrieben steht!
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12. Inhumane Einsparungen III
Mama geht zu den Engeln …
Z wei Frauen kommen aus einem alten Patrizierhaus und gehen langsam die Straße entlang. Der Himmel ist von der untergehenden Sonne rot gefärbt. Die Jüngere der beiden hakt sich unter und zeigt zum Himmel: »Schau mal, oben backen die Engel bereits Kuchen für meinen Empfang.«
Die beiden Frauen kommen von einem der seit drei Monaten laufenden Gespräche bei einer Schweizer Sterbehilfefirma.
Wer die beiden Frauen des Weges gehen sieht, denkt, sie unterhalten sich über etwas Alltägliches, Banales. Doch es geht um den Tod. Einen Tod, den man selbst herbeiführen könnte. Genau gesagt um das Sterben der 39-jährigen Sandra. Fast elf Monate lag sie im Krankenhaus, 40 Mal auf dem Operationstisch. Die Ärzte entfernten ihr immer mehrere Abszesse auf einmal. Inzwischen schlagen Antibiotika und Schmerzmittel bei ihr nicht mehr an. Es fehlen ihr aufgrund der ständigen Eingriffe regelrecht ganze Körperstücke. In einem Zustand purer Verzweiflung besucht sie ihre Tante in der Schweiz, die ihr nach längeren Gesprächen den Kontakt zu einer der zwei Sterbehilfefirmen vermittelt. So eine Entscheidung trifft man ja nicht aus heiterem Himmel. Zumal in Deutschland ein Ehemann mit zwei Kindern auf ihre Rückkehr wartet.
Bis zu diesem Abend mit dem rot gefärbten Himmel wusste niemand, welchen Hintergrund die Besuche bei der Tante in der Schweiz hatten. Es geht bei diesem Spaziergang um die konkrete Frage, wo der tödliche Medikamentenmix, den die Firma besorgen würde, eingenommen werden soll. Weihnachten, so sagt Sandra, will sie noch bei der Familie verbringen. Das macht die Erklärung gegenüber den Kindern, »Mama geht zu den Engeln und passt von dort oben auf euch auf«, glaubhafter.
Die Kliniken und die Ärzte, die sie bisher behandelt haben, zeigen sich ratlos, wissen nicht mehr weiter. Sandra hat alles probiert: Sport, Ernährungsumstellung, extremes Fasten. Einmal glaubte sie, sie bilde sich diese Krankheit nur ein. Sie arbeitete im medizinischen Bereich und hat keine Mühe, sich zu informieren. Sie begann im Internet zu recherchieren und entdeckte
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