KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
stundenlang aus Kinder- und Jugendbüchern vorgelesen. Die einzige Reminiszenz an den Sommer, auch wenn er gerade draußen sein Bestes gab, waren die tanzenden Lichtpunkte, die die Sonne durch die Ritzen des Rollos auf die rote Bettdecke schickte.
In diesen Tagen war ich auch in den Genuss sämtlicher Bände der Harry-Potter -Reihe gekommen. Ich las und las, obwohl ich manchmal nicht genau wusste, ob Imogen nicht längst eingeschlafen war.
Es war fast wie in meiner Kindheit. Wenn ich krank war, durfte ich damals auf dem Wohnzimmersofa unter die Federdecke kriechen und aus dieser sicheren Position heraus Schallplatten mit Abenteuergeschichten hören. So lag ich mit Tom Sawyer und Huck Finn auf dem Heuboden und hielt den Atem an, als wir dem Mordkomplott des Indianers Joe lauschten. Ich spürtefast, wie die riesige Hand des geblendeten Polyphem über die Rücken seiner Schafe strich, während Odysseus und seine Gefährten am Bauch der Tiere hängend aus der Todesfalle seiner Höhle entkamen. Und ich war mit in der steinernen Zelle im Château d’If, als der sterbende Abbé Faria dem unglücklichen Mithäftling Edmond Dantès sein seltsames Geheimnis anvertraute.
Alle diese Geschichten waren gemacht, die Leser zu entführen, weg vom Hier und Jetzt, in längst vergangene Zeiten und an magische Plätze. Damals konnte ich mir sicher sein, dass ich von diesen Reisen unbeschadet in einen sicheren Hafen zurückkehren würde. Heute war das anders. Trotzdem kann auch Eskapismus manchmal funktionieren. Wenn man kaltes Eis auf eine Brandwunde legt, schwinden die Schmerzen. Ist das Eis geschmolzen, meldet sich das verbrannte Fleisch aber rasch und unmissverständlich wieder zurück.
Imogen hatte den Kopf auf meinen Bauch gelegt: »Weißt du, Martin, ein bisschen fühle ich mich wie der Hobbit Frodo und seine Gefährten, als sie den Weg durch die finsteren Minen von Moria nehmen mussten. Sie tasteten sich durch die dunklen Gänge, ohne zu wissen, ob sie der Feind nicht längst überholt hatte. Sie liefen und liefen, immer in der Angst, dass die Falle schon zugeschnappt war.«
Ich zog sie enger an mich. »Wir können es dem Krebs in deiner Brust leider nicht ansehen, ob er schon auf Wanderschaft gehen kann oder nicht. So einfach ist das nämlich auch für Krebszellen nicht. Dazu müssen sie eine ganze Menge dazulernen – zum Glück! Dieser Lernprozess hinterlässt zwar molekulare Spuren in den Zellen, und wir können diese Zeichen auch lesen, aber wir wissen noch nicht, welche Zeichen wir wie zusammensetzen müssten, um zu erkennen, ob es sich hier um zelluläre Vagabunden handelt. Wenn wir das wüssten, könnten wir vielen Menschen diese Form der Chemo ersparen.«
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Die Evolution zellulärer Vagabunden
Zellen sind normalerweise ziemlich bodenständige Gebilde. Sie sind tief in ihrem angestammten Milieu verwurzelt. Diese Heimatverbundenheit ist für viele Zelltypen sogar in einem ganz konkreten Sinn überlebensnotwendig. Sie gehen zugrunde, wenn sie die direkten, oft durch Eiweißbrücken vermitteltenKontakte zur Nachbarschaft verlieren. Dieser Verbund, in dem die meisten Zellen integriert sind, wird extrazelluläre Matrix (ECM) genannt. Diese Matrix schafft ein sehr spezifisches lokales Milieu mit vielen löslichen Substanzen, die für das Leben und Gedeihen einer Zelle essentiell sind.
Es gibt sogar eine Art Heimweh-Tod von Zellen.
Diese spezielle, wohldefinierte Form des Zelltodes bezeichnen die Zellbiologen als Anoikis (vom griechischen Wort für Heimatlosigkeit). Sie tritt auf, wenn Zellen aus ihrer Verankerung gelöst werden. Alle derartigen Mechanismen sind Teil des großen Plans, der das Verhalten der einzelnen Zelle ganz den Bedürfnissen des Organismus unterordnet.
Krebs entsteht fast immer aus einer einzigen Ursprungszelle.
Jeder Tumor beginnt daher als Heimspiel. Die Krebszellen wachsen in dem Milieu heran, das auch ihre Vorfahren gewohnt waren. Würden sie es dabei belassen, wäre die Onkologie einer ihrer größten Sorgen enthoben. Lokal begrenzte Tumorerkrankungen sind mit lokalen Maßnahmen wie der Chirurgie oder der Strahlentherapie in vielen Fällen zu heilen.
Mutationen, die ungebremstes parasitäres Wachstum auslösen, fördern aber oft auch die Autonomiebestrebungen von Zellen. Krebszellen emanzipieren sich von ihrer zellulären Nachbarschaft und werden von ihren Sozialkontakten und auch von der Versorgung mit Wachstumsfaktoren immer unabhängiger. Wenn Krebszellen durch die Produktion von
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