Kreuz des Südens
Sünde durfte er sich nicht erlauben: Keine Katze und auch sonst niemand durfte West je vom Schlafen abhalten, es sei denn, sie hätte aus freien Stücken beschlossen, wach zu bleiben; und sie hatte nichts dergleichen beschlossen.
»Was zum Teufel ist mit dir los?«, beschwerte sich West, drehte sich um und boxte in das Kissen unter ihrem Kopf.
Niles schlief nicht, aber er rührte sich auch nicht. Seit Mitternacht, als seine Besitzerin abrupt das alberne Seelentrösterbuch mit den vollmundig versprochenen einhundertundeins fröhlichen, herzerwärmenden Gutenachtgeschichten, die Niles nichts bedeuteten, weggelegt hatte, war seine Lage unverändert.
»Halt's Maul!«, sagte seine Besitzerin und trat in die Laken. Niles' Rippen hoben und senkten sich lautlos beim Atmen. Er fragte sich, wann es seiner Besitzerin auffallen würde, dass sie immer gereizt war, wenn Klavierspieler im Revier aufgetaucht war. »So, jetzt mag ich nicht mehr«, sagte West. Sie setzte sich auf, nahm Niles und ließ ihn auf den Boden fallen. In den letzten Stunden hatte er einiges durchgemacht, aber nun war es genug. Er sprang wieder aufs Bett und schlug ihr mit der Pfote und eingefahrenen Krallen aufs Kinn. »Du kleiner Dreckskerl!« Sie knallte ihm eine auf den Kopf. Niles sprang auf ihren Bauch, so fest er konnte, er wusste, wie sehr sie das hasste am frühen Morgen, wenn sie aufs Klo musste. Seine Besitzerin warf ihn wieder vom Bett runter, er sprang zurück, fauchte und biss ihr in den kleinen Finger. Dann hüpfte er wieder vom Bett herunter und sauste davon. Sie sprang raus und ihm nach. »Kommst du sofort hierher, du kleiner Dreckskerl!«, schrie sie.
Niles war schneller, flitzte um die Ecke in das Büro seiner Besitzerin und sprang auf das oberste Brett ihres Bücherregals. Dort wartete er mit zuckendem Schwanz und starrte hinunter. Seine Besitzerin schaffte die Kurve nicht ganz so elegant, krachte mit der Hüfte gegen den Türrahmen und fluchte noch viel mehr. Mit dem ausgestreckten Finger deutete sie auf Niles, doch der hatte keine Angst. Er war auch in keinster Weise müde. Sie kam näher und griff hinauf, um ihn zu packen.
Niles sprang über ihren Kopf hinweg, landete auf dem Schreibtisch. Er stieg auf die Menü-Taste ihres High-TechTelefons, bis die Nummer erschien, die er wollte. Dann bediente er die Symbole Lautsprecher und Wählen. Er wartete so lange, bis seine Besitzerin ihre Hand fast an seinem Nacken hatte, dann schlug er ihr auf die Nase und war fort - während auf dem Lautsprecher das Telefon weiter und weiter läutete. »Hallo?«, meldete sich Klavierspieler.
West lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Hallo?«, sagte Brazil wieder. Sie griff nach dem Hörer.
»Wieso bist du in der Leitung, wenn ich dich gar nicht angerufen habe?«, fuhr sie ihn an und las Brazils Nummer vom Bildschirm ab.
»Wer spricht da?«, fragte Brazil.
»Das war Niles, nicht ich«, sagte West.
»Virginia?«
»Ich war das nicht«, sagte sie und sah hinüber zu Niles, der in sicherer Entfernung ein Bein nach dem anderen streckte.
»Es ist nicht gerade ein Verbrechen, wenn du mich anrufst«, sagte Brazil.
»Darum geht es nicht.«
»Sollen wir frühstücken oder hast du keine Zeit mehr«, sagte Brazil, als ob er einfach nur nett sein wollte und keinerlei Interesse daran hätte, sie zu sehen.
»Gott, ich weiß es nicht«, antwortete sie und spielte mit den restlichen Optionen ihres Menüs. »Wie spät ist es? Niles hat mich die ganze Nacht wach gehalten.«
»Fast sieben.«
»Ich werde nicht mit dir laufen, falls das deine Frage ist«, schoss es aus West heraus. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus.
»Das habe ich bereits erledigt«, sagte Brazil. »River City Diner? Kennst du den schon?«
»Ich kann mich nicht an alle Namen in der Gegend erinnern.«
»Der ist wirklich sehr gut. Würde es dir was ausmachen, mich mit deinem Dienstwagen abzuholen? Ich hab ja leider keinen.«
»Du scheinst dich ja gut auszukennen in der Gegend«, sagte West.
Auch Popeye gab an diesem Morgen keine Sekunde Ruhe. Sie hüpfte auf Hammer herum. Frech rannte sie in Hammers Büro, sprang auf ihren Schreibtischsessel und starrte auf den Monitor mit den Fischen drin. Sie ließ Hammer nicht in Ruhe ihre erste Tasse Kaffee trinken oder Zeitung lesen. Hartnäckig machte Popeye ihr Ding, ignorierte Hundekuchen, wollte nicht sitzen oder sich hinlegen, nicht herkommen, nicht Ruhe geben. »Sag mir, aus welchem Grund ich diese ganzen Bücher lese und einen
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