Kreuz des Südens
da drüben, Schwachkopf. Und weißt du was? Du wirst es alleine machen. Wir beide werden hier nicht rumhängen.«
Weed versuchte ruhig zu bleiben. »Okay«, sagte er, »aber wie komme ich nach Hause?«
»Wie du willst!« Smoke nahm Divinity an der Hand, und sie liefen weg. Sie lachten und tranken wieder und achteten nicht darauf, wohin sie traten.
Weed blickte sich um und versuchte herauszufinden, wo er war. Er stand in einem Teil des Friedhofs, der sehr nahe am Fluss lag. Hier ruhten offenbar die reichen Menschen, wovon viele so wichtig gewesen waren, dass ihnen das ganze Geviert gehörte, groß genug, um ganze Familien aufzunehmen. Zwei Hauptwege und ein Rondell weiter sah Weed die Silhouette einer Statue, und sein Herz füllte sich mit Furcht und Ehrfurcht. Groß und aufrecht ragte sie in die Nacht, ein stolzer Mann mit einem schönen, scharfen Profil.
Als Weed näher trat, sah er, dass sechs Wege auf die Figur zuführten, was bedeutete, dass der Mann eine Art Held gewesen sein musste, vielleicht die berühmteste Person überhaupt, als sie noch lebte. Er trug einen langen Mantel und kniehohe Stiefel, in der einen Hand hielt er einen Hut, die andere stemmte er in die Hüfte. Er stand auf einem Marmorpodest, umgeben von Azaleen und Efeu. Zu seinen Füßen wehten zwei Südstaaten-Fahnen.
Weed kannte den Namen Jefferson Davis nicht. Weed wusste nichts über den Mann, dessen Statue er im Begriff war zu bemalen, außer dass Davis ein amerikanischer Soldat und Verteidiger der Verfassung war, geboren 1808, gestorben 1889. Die Rechnung nahm ihn einige Minuten in Anspruch. Er öffnete den Rucksack und begann, Farben, Pinsel und eine Flasche Wasser rauszuholen.
Neunundachtzig minus acht... bewegten sich seine Lippen, als er rechnete. Schließlich gab er den Versuch auf und begann von neuem. Neun minus acht war eins. Und acht minus null war immer noch acht. Also war Jefferson Davis nur achtzehn Jahre alt gewesen, als er starb. Weed war überwältigt von Mitleid.
Er blickte sich um und sah die Marmorstatue einer trauernden Frau, die eine aufgeschlagene Bibel in der Hand hielt. Daneben saß ein Engel mit großen Flügeln. Sie schienen ihn zu beobachten und zu warten. Plötzlich wusste Weed, weshalb er hierher gebracht worden war. Das hatte nichts mehr mit Smoke zu tun, nicht im großen Gefüge der Dinge. Dies war keine Strafe, sondern ein unerwartetes Geschenk. Freude erfüllte sein Herz. Weed wusste nun, was er zu tun hatte. Er fühlte sich nicht mehr einsam und hatte auch keine Angst mehr.
16
An Schlaf war für Brazil augenblicklich nicht zu denken. Zum wiederholten Mal strampelte er sich die Laken fort, stand auf, trank Wasser, ging mehrere Minuten lang in der Dunkelheit hin und her, setzte sich vor den Computer und starrte auf die Karte mit den blauen Fischen. Er trank noch mal Wasser und stellte sich vor, dass auch West litt.
Er hoffte, dass sie sich unruhig hin und her wälzte, dass sie Albträume hatte, dass ihr vor Sehnsucht das Herz wehtat, wenn sie an ihn dachte. Dann wieder wurden seine Phantasien durch ein unbekanntes Gesicht zunichte gemacht; jemand, der Jim hieß. Brazil dachte angestrengt nach, dachte an jeden Cop, von dem er wusste, dass er mit West bekannt war, aber es fiel ihm kein Jim ein, an dem sie hätte interessiert sein können. West mochte große, gut gebaute Männer, die intelligent, witzig und sensibel waren, Männer, mit denen sie ins Kino, einen heben oder an den Schießstand gehen konnte. Sie hatte es satt, sich anmachen zu lassen, sie verlangte Rücksicht und freundliche Behandlung. Indifferenz tat es manchmal auch.
Brazil ging zurück ins Schlafzimmer. Es war jetzt fast fünf. West hatte ihm gesagt, dass sie nicht beabsichtige, mit ihm heute Morgen zu laufen, weil sie Laufen hasse und einen Tag Ruhe brauche. Brazil zog sich den Trainingsanzug an und ging alleine raus. Mit einem Affenzahn rannte er durch Fan und legte noch an Tempo zu, während seine Gedanken um Jim kreisten. Alles, was Brazil über ihn wusste, war, dass er Heineken trank oder West zumindest einen Sechserpack mitgebracht hatte. Es war also auch möglich, dass er nur dachte, sie möge Heineken. Vielleicht trank Jim überhaupt kein Bier. Vielleicht bevorzugte er Scotch oder guten Wein, obwohl Brazil nichts von alledem in der Küche entdeckt hatte. Natürlich hatte er nicht in ihren Schränken nachgesehen. Ins Schlafzimmer hatte er auch nicht gesehen, als er daran vorbeigegangen war, denn er wusste, er hätte es nicht
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