Kreuzberg
Hünerbein grübelt. Dann schnippt er
plötzlich mit den Fingern. »Ich hab’s: ›Het Paradijs Reizen‹. Da hat er mich in
der Tür fast umgerannt. Als ich die de Groot besuchen wollte. Angeblich hat er
einen Flug nach Brasilien gebucht. Ohne Rückflug.«
»Was du
nicht sagst«, entfährt es mir.
Mein Gott!
Wie konnten wir das nur übersehen? Fast zwei Drittel aller Mordfälle geschehen
im engsten Familienkreis.
»Der
Reinicke!« Ich laufe drauflos. »Natürlich!«
»Was?«
Hünerbein starrt mir verblüfft nach.
»Schnapp
dir deine Waffe und komm mit«, rufe ich ihn. »Na los! Mach hin! Sonst ist er
weg!«
45 ANKE CARDTSBERG wollte gerade Feierabend machen,
als die Türglocke ging.
Wer konnte
das noch sein? Es war Dienstag, da gab es keine späten Kunden mehr, weil die
Ämter bis achtzehn Uhr geöffnet hatten. Das waren Erfahrungswerte: Am
Wochenende gab es Termine bis in die tiefe Nacht und an den Wochentagen bis in
den Abend hinein. Nur dienstags und donnerstags war wenig los und der
Terminkalender nachmittags schon leer. Sheela hatte die Theorie aufgestellt,
dass es an den Öffnungszeiten der Ämter und Behörden liegen könnte. Nach langen
Tagen mit viel Bürokratie verging den Leuten womöglich die Lust auf Yoga.
Dabei wäre
es da besonders nötig, hatte Anke scherzend geantwortet und gelacht.
Sie sah im
Kalender nach, als es zum zweiten Mal läutete. Kein Eintrag. Vielleicht war es
Sheela. Die hatte vor gut einer halben Stunde das Haus verlassen. Aber Sheela
würde nicht klingeln, die besaß einen Schlüssel.
Vielleicht
hat sie ihn vergessen, dachte Anke und öffnete die Tür.
»Guten Abend.«
»Namaste«, erwiderte Anke und verneigte sich leicht.
Trotz der
Dienstmarke, die ihr entgegengehalten wurde, erkannte sie den Mann. Es war der
Typ mit den Engelslocken. Zwar war ihr sein Haar in jener Nacht rötlich
vorgekommen, aber das konnte an der Lampe im Hof gelegen haben. In ihrem
schummrigen Licht sahen auch gelbe Laken wie Orange aus, und weiße Tücher
bekamen einen leichten Rosaton.
»Was kann
ich für Sie tun?«
»Das werden
wir sehen«, antwortete der Typ lächelnd und trat ein. »Ist sonst noch jemand
hier?«
Anke biss
sich auf die Lippen. Was sollte diese Frage? Und welche Schlussfolgerungen zog
der Kerl aus einer Antwort?
Von
jener Nacht an, als die Polizisten den Park gegenüber abriegelten und der Mann
hier das erste Mal aufgetaucht war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass er
wiederkommen würde.
Weil sie
ihn gesehen hatte.
Das gefiel
ihm nicht, das spürte sie fast körperlich. Für ihn war sie eine Gefahr, weil er
nicht sauber war. Weil er Dreck am Stecken hatte. Sehr viel Dreck, denn warum
sonst hatte sich der Mann ausgerechnet zu dem Zeitpunkt bei ihr verstecken
wollen, als die halbe Berliner Polizei im Park nach dem Golgatha-Täter suchte?
»Es kommen
gleich Kunden«, antwortete Anke und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu
unterdrücken. »Ich habe also nicht so viel Zeit.«
»Das werden
wir sehen«, antwortete er und sah sie versonnen an.
Anke zuckte
etwas zusammen, als er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
»So
schreckhaft?« Der Typ lachte laut los. Es war ein heiteres, ein helles Jungenlachen,
fast sympathisch, wenn nicht so etwas Dunkles darin mitschwingen würde.
Oder
bildete sie sich das nur ein? Vielleicht fing sie allmählich an zu spinnen.
Fünfundzwanzig war sie in diesem Jahr geworden, andere waren in dem Alter
längst hysterisch. Sie hielt mit Yoga dagegen, doch für ihren Vater war auch
das nur eine Hysterie.
War sie
verrückt? Ach, wenn Vater doch jetzt hier wäre …
Ich darf
mir meine Angst nicht anmerken lassen, beschwor sie sich. Ich werde ganz
professionell sein. Wie immer. Die besten Opfer sind die Ahnungslosen. Die
Naiven. Die mit dem Tunnelblick. Ich muss dringend telefonieren, und wenn er
mich für blöd hält, wird er sich sicherer fühlen und mir nicht ins Büro folgen.
»Sie sind
überarbeitet«, sagte sie sanft und strich ihm über die Brust. »Sie brauchen
Entspannung.«
»Das ist
nicht ganz falsch«, sagte er, »deshalb bin ich ja hier.«
»Vielleicht
fangen wir mit einer ayurvedischen Massage an?«
»Klingt
gut.«
»Dann
machen Sie sich doch schon mal frei. Wie gesagt, es kommen gleich Kunden,
aber …« Sie lächelte. »Bis dahin schaffen wir vielleicht noch was. –
Ich bin gleich wieder da!«
Sie lief
leichtfüßig zwischen wehenden Tüchern hindurch ins kleine Büro am Ende des
Raumes. Ihr Herz schlug
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