Kreuzberg
gefühlt. Sie liebte ihn sehr. Und er liebte sie zu
sehr. Zum Missfallen ihrer etwas jüngeren Schwester, die vom Vater weitgehend
in Ruhe gelassen wurde. Inga war eben sein Goldkind, und die Schwester sah
neidisch zu.
Ein
Wahnsinn: Zwei kleine Mädchen, die darum wetteifern, vom Vater unsittlich
begrapscht zu werden. Wie dumm Kinder sind, wie naiv. Und wie widerlich
Erwachsene, die das ausnutzen. Der eigene Vater war ein Schwein. Inga hatte
Jahre gebraucht, um es zu begreifen. Verstanden hatte sie es bis heute nicht.
Und nie würde sie darüber hinwegkommen. Als der Vater vor ein paar Jahren
starb, hatte sie mit ihrer Schwester heulend am Grab gestanden. Es flossen Rotz
und Wasser. Sie waren so traurig. Und hassten ihn noch mehr.
Es muss ein
Ende haben, dachte Inga Lenz und erhob sich. In ihrer Handtasche hatte sie eine
kleine Spraydose. Kein Gas zur Selbstverteidigung, nein, so was brauchte sie
nicht. In dieser Dose war rote Farbe. Inga hatte sie gekauft, um Lackschäden an
ihrem Fahrrad zu behandeln.
Jetzt
schüttelte sie die Dose und sah sich nachdenklich um. Ganz in der Nähe hatte
der Golgatha-Täter zugeschlagen. Da drüben hinter der Hecke. Und an dem Baum,
oben am Hang. Einmal weiter links, zwischen den versteckten Parkbänken. Zweimal
auf dem Spielplatz. Einmal direkt daneben. Sechs Opfer. Vielleicht saß er
manchmal hier auf der Bank, wenn er auf sie wartete.
Es muss ein
Ende haben, dachte Inga Lenz erneut, es muss endlich ein Ende haben. Und dann
sprayte sie es auf die Rückenlehne der Parkbank. Große blutrote Buchstaben:
» VERGEWALTIGER: WIR KRIEGEN DICH! «
15 WENN ZWEI DRECKIGE MÄNNER einen noch dreckigeren Jugendlichen in Handschellen abführen,
erntet man einige Blicke. Doch wir sind in Berlin, und die Leute nehmen es mit
Gleichmut. Hier gibt es so viel Irrsinn, so viel Absurdität und so viel
Dreck – da fallen wir auch nicht mehr groß auf.
Wir bringen
den zwanzigjährigen Orhan zurück in die Wohnung der Misirlioglus, wo Matuschka
mit dem drei Jahre jüngeren Cemir schon auf uns wartet.
»Streifenwagen
ist unterwegs«, meldet er, als wir eintreten, und reißt die Augen auf. »Wie
seht ihr denn aus? Schlammschlacht?«
»Algenkur«,
antworte ich und drücke Orhan in einen der Sessel. Dann wende ich mich an die
Mutter. »Würden Sie Ihren Jungs ein paar Sachen packen? Die sind vorläufig
festgenommen.«
»Wieso?«
Ayse bleibt seltsam ungerührt und gefasst. »Was haben sie denn getan?«
Einiges:
Widerstand gegen die Staatsgewalt, Raub und Einbruch, da kommt ordentlich was
zusammen. »Vor allem: tätlicher Angriff auf Polizeibeamte. Und ich will jetzt
wissen, was das alles bezwecken soll.«
Ayse
schweigt. Orhan und Cemir senken die Köpfe. Eine Antwort geben auch sie nicht.
»Ich weiß
nicht, ob euch klar ist, was auf dem Spiel steht«, werde ich lauter, »ihr steht
unter Mordverdacht.«
»Was?«
Orhan starrt mich an. »Wer?«
Geschickte
Frage, denke ich. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, haben wir das sogenannte
Verena-Becker-Problem. Sie stand im Verdacht, am 7. April 1977
Generalbundesanwalt Siegfried Buback in seinem Dienstwagen erschossen zu haben.
Zu der Tat bekannt hatte sich ein »Kommando Ulrike Meinhof« der Roten Armee
Fraktion RAF . Geschossen wurde vom Sozius eines Motorrades aus, und bis heute
ist nicht klar, wer das Motorrad gefahren ist und wer der Mörder war. Stefan
Wisniewski, wie Verena Becker behauptete? Oder andersherum? Weder dem einen
noch dem anderen war bislang etwas nachzuweisen. Folglich konnten sie auch
nicht wegen des Mordes an Buback verurteilt werden.
Gibt es
mehrere Tatbeteiligte, hinterlassen sie meist »eine vielfältige Spurenlage« wie
Damaschke sagen würde, und selten ist zweifelsfrei nachzuweisen, wer von den
Tätern nun den Tod des Opfers herbeigeführt hat. Meist reicht es nicht mal für
eine Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Mordes, denn dafür müsste man den
Tätern auch einen gemeinsamen Vorsatz nachweisen.
»Wen sollen
denn die Jungen ermordet haben?«, fragt Ayse und rückt nervös ihr Kopftuch
zurecht, »und warum?«
»Swantje
Steffens wurde heute Nacht tot am Kreuzberg aufgefunden«, erklärt Beylich
ruhig, »nur wenige Stunden, nachdem sich Ihr Mann und Ihre Söhne mit ihr eine
heftige Auseinandersetzung wegen des gepfändeten Wagens geliefert hatten. Heute
Vormittag sind sie dann in die Wohnung der Toten eingebrochen …«
»Wir sind
da nicht eingebrochen«, widerspricht Orhan heftig. »Die Tür war schon so,
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