Kreuzberg
einer Anzeige kam und der Täter gefasst und vor
Gericht gestellt wurde, hieß es oft von männlichen Richtern, das Opfer sei
selber schuld. Mit ihrer aufreizenden Kleidung würden Mädchen die Männer nur
provozieren, da sei es kein Wunder, wenn es zuweilen zu Übergriffen komme.
Okay! Inga
hatte begriffen. Die Männer wollten als reine Triebtiere verstanden werden, die
sich grundsätzlich nicht unter Kontrolle haben. Bitte sehr, ab sofort würde
Inga Lenz all diese Idioten auch wie Tiere behandeln. Sie argumentierte,
debattierte, diskutierte sich durch sämtliche Gremien, organisierte
Pressekampagnen und stürmte mit Gleichgesinnten das Abgeordnetenhaus von
Berlin.
Irgendwann
hatten sie Erfolg. Die SPD wollte die nächsten Wahlen
gewinnen und brauchte dazu auch die Stimmen der Frauen. Auf einmal war das
Undenkbare möglich. Missbrauch wurde zum Thema und in der Polizei eine
entsprechende Abteilung gegründet.
»Wenn Ihnen
das so wichtig ist, Frau Lenz«, wurde ihr gesagt, »dann sollten Sie das auch
gleich übernehmen.«
Die
feministische Presse feierte den grandiosen Sieg. Eine Frau als
Gleichstellungsbeauftragte der Berliner Polizei und leitende Ermittlerin für
Sexualdelikte, na super! Dabei hätte so was seit Jahren selbstverständlich sein
müssen.
Jetzt
lauerten sie: darauf, dass Inga Lenz versagte. Dass die Weiber es nicht
hinbekamen. Man konnte sie spüren, die permanente Beobachtung, die Häme, wenn
mal etwas schiefging.
Ja, sie
hatte den Park einmal sehr geliebt. Er war wie eine grüne Lunge, ein Stückchen
Natur inmitten der Stadt. Dann begannen die Überfälle. Die Opfer waren Mädchen,
die nachts aus dem Golgatha kamen und nach Hause wollten. Der Täter hielt ihnen
ein Messer unter die Kehle und vergewaltigte sie. Erst eins. Dann noch eins.
Inga hatte
Zettel mit präventiven Hinweisen verteilen lassen. Überall, im Golgatha, in den
Schulen, in Gaststätten, Klubs und Kneipen, in Briefkästen. Junge Frauen und
Mädchen sollten nicht mehr allein durch den Park laufen. Vor allem nicht
nachts. Sie sollten wachsam sein, Ausschau halten. Jeden Hinweis an die Polizei
geben.
Vergebens.
Es hörte nicht auf. Inzwischen waren es sechs Opfer, und Inga Lenz hasste den
Park.
Jetzt
rächte sich auch, dass sie so offensiv die Öffentlichkeit einbezogen hatte. Die
Presse witterte Schlagzeilen, die Politik machte Druck. Wir brauchen
Ergebnisse, hieß es immer öfter. Manche wurden deutlicher: »Sie brauchen
Ergebnisse, Frau Hauptkommissarin Lenz, anders sind Sie hier nicht mehr zu
halten.«
Da waren
sie wieder. Die Männer witterten ihre Chance. Es lag ihnen schon auf den
Lippen, dieses »Die Weiber können’s nicht«, und insgeheim dachten sie sicher
schon über eine Neubesetzung des Ressorts nach.
Inga musste
liefern, komme, was wolle. Und deshalb hatte sie in der vergangenen Nacht auch
sofort reagiert. Keine fünf Minuten, nachdem der Notruf in der Einsatzzentrale
eingegangen war, hatten mobile Einsatzkommandos und Bereitschaftspolizei den
gesamten Park abgeriegelt. Wäre der Täter noch vor Ort gewesen, hätte man ihn
gefasst.
Leider war
die Aktion ein totaler Reinfall, für den sie sich jetzt auch noch rechtfertigen
musste. Was halb so wild wäre, müsste sie nicht dauernd das höhnische Grinsen
ihrer männlichen Vorgesetzten ertragen. Die warteten nur darauf, ihr den Fall
abzunehmen. Der Mord an dieser Finanzbeamtin käme ihnen da gerade recht. Schon
allein deshalb musste Inga darauf beharren, dass auch dieser Fall dem
Golgatha-Täter zuzuordnen sei. Obwohl sie selbst nicht mehr so recht daran
glaubte. Denn da hatte dieser so rührend versoffene Hauptkommissar Knoop von
der M1 sicher recht. Die Tote passte nicht ins Beuteschema.
Beuteschema . Allein dieses Wort. Inga könnte kotzen, aber offenbar waren
Frauen für die Männer immer noch nichts anderes als Beute .
Nachdenklich
ließ sie das Rad ausrollen. Sie war müde, fühlte sich leer und erschöpft.
Sechs
Monate intensivster Ermittlungen hatten nichts gebracht. Es gab keine Zeugen,
außer den Opfern. Und die hatten Angst. Sie wollten oder sie konnten sich nicht
erinnern. Der Golgatha-Täter blieb unsichtbar. Es existierte nicht mal ein
Phantombild von ihm.
Inga Lenz
setzte sich auf eine Bank am Wasserfall und sah nachdenklich den gurgelnden
Fluten zu. Blätter trieben vorbei, wurden von kleinen Strudeln in die Tiefe
gezogen.
Inga kannte
das: Wenn man in einen Strudel gerät und nicht mehr herauskommt. So hat sie
sich immer bei ihrem Vater
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