Kreuzberg
Beylich hebt die Augenbrauen.
»Ja.« Orhan
nickt. »Das neueste E-Klasse-Modell hat achtzigtausend gekostet und ist noch
nicht mal zwei Jahre alt. Blaupunktradio, Breitreifen, Klima, Schiebedach, alle
Extras dabei.«
»Das Auto«,
meldet sich nun auch Ayse wieder zu Wort, »ist das Wertvollste, was wir haben.«
Sie wischt sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. »Wann hat das endlich ein
Ende!«
»Und die
Entführer haben sich darauf eingelassen?«
Ayse und
ihre Söhne nicken einträchtig. »Für Freitag war die Übergabe geplant. Und dann
wird der Wagen vom Finanzamt gepfändet. Was sollten wir denn machen?«
»Haben Sie
eine Ahnung, wer Ihre Tochter entführt haben könnte?«
»Nein!«
Orhan regt sich auf. »Irgendjemand denkt, wir sind reich. Weil wir Mercedes
fahren. Aber wir sind nicht reich, Mann!«
»Junkies
vielleicht«, vermutet Matuschka, »brauchen Geld für den nächsten Schuss.«
Und
entführen dann ein Mädchen? Zu langwierig, denke ich, Junkies machen lieber
schnelle Brüche. Trotzdem läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Was, wenn
so was Schule macht? Wenn jeder x-beliebige Bürger plötzlich von irgendwelchen
Idioten bedroht wird, die Geld wollen? Wo kommen wir da hin? Wahnsinn. Man
schnappt sich einfach ein Kind. Klar zahlen die Eltern. Sie werden alles tun,
um ihr Kind wiederzubekommen.
Wie weit
kann eine Gesellschaft sinken, denke ich entsetzt. Ist heute niemand mehr
sicher?
Wenigstens
macht es jetzt Sinn. Die Misirlioglus haben alle Register gezogen, um den Wagen
wiederzubekommen. Weil sie ihre Tochter retten wollen. Aber haben sie dafür
auch gemordet?
»Und weil
das Auto weg war, wurde die Übergabe auf heute verschoben?«
Orhan
nickt. »Wir sollten um drei in Lichterfelde sein. An einer Telefonzelle am S-Bahnhof.
Es hat schon geklingelt, als wir ankamen. Die Täter müssen uns beobachtet
haben, denn wir – also Cemir und ich – sollten verschwinden.«
»Vater hat
uns weggeschickt und ist dann allein weitergefahren«, fügt Cemir hinzu und
zuckt hilflos mit den Schultern.
»Jetzt
müssen wir warten.« Ayse schluchzt auf. »Haben Sie eine Tochter?«
Hab ich,
denke ich. Nicht auszudenken, wenn der was passiert.
»Können Sie
sich vorstellen, wie sich das anfühlt?«
Nein. Und
ich will es mir auch nicht vorstellen.
»Das eigene
Kind in den Fängen irgendwelcher Verbrecher!« Ayse fängt an zu weinen. »Was
ist, wenn sie ihr was tun? Wenn sie meinem Engelchen was antun …«
»Das werden
sie nicht.« Gerührt nimmt Beylich die verzweifelte Frau in den Arm. »Haben Sie
keine Angst, wir sind ja da. Und wir werden Ihr Kind retten. Das verspreche ich
Ihnen.« Bei den letzten Worten sieht er mich eindringlich an. »Wir werden sie
retten«, wiederholt er leise. »Verlassen Sie sich drauf.«
16 »ES GIBT ALSO ein Verbrechen hinter dem Verbrechen«,
konstatiert Palitzsch am nächsten Morgen in seinem Büro. »Das ändert natürlich
die Lage vollkommen.«
Es ist
Sonntag, der 18. August. Die Nacht habe ich allein bei mir zu Hause verbracht.
Melanie war nicht da. Sie hatte mir einen Zettel auf die Kommode gelegt; im
Kühlschrank sei noch etwas Bohneneintopf, den könne ich mir warm machen. Sie
übernachte bei einem Freund, ich solle mich nicht sorgen.
Unwillkürlich
musste ich lächeln, denn natürlich mache ich mir Sorgen. Jeder Vater macht sich
Sorgen, wenn die Tochter gerade siebzehn geworden ist und bei einem Freund
übernachtet. Ich weiß noch nicht mal, ob sie schon die Pille nimmt. Aber
gestern Abend war ich erleichtert. Besser, Melanie ist bei einem Freund, als in
den Fängen irgendwelcher Entführer. Ich war hundemüde, duschte und fiel sofort
ins Bett. In einen traumlosen Schlaf, Gott sei Dank, denn ich hatte befürchtet,
ich würde von gefesselten entführten Mädchen träumen, die dann irgendwann das
Gesicht meiner Tochter Melanie annehmen würden.
Glücklicherweise
blieb ich von Alpträumen verschont, sodass ich an diesem Sonntag gut
ausgeschlafen zum Dienst gekommen bin. Kriminaloberrat Palitzsch hat wieder zum
Arbeitsbrunch geladen, und ich fühle mich wesentlich besser. Während wir die
neue Lage analysieren, gibt es Rührei mit Speck und Schinken, dazu Orangensaft,
Kaffee und Tee.
Hünerbein
sieht hungrig zu. Vermutlich hat er wieder Mondpause, oder irgendeine andere
astrologische Konstellation hindert ihn daran, Nahrung zu sich zu nehmen.
Entsprechend schlecht ist seine Laune.
»Das haut
doch alles nicht hin«, regt er sich auf. »Welcher
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