Kreuzberg
Er
war einer der mächtigsten und gefürchtetsten Geheimdienstler der Welt. Im
Westen bezeichnete man ihn ehrfürchtig als den »Mann ohne Gesicht«, weil
niemand wusste, wie er aussah. Im Osten wurde er unauffällig »Mischa« genannt.
Nach dem
Zusammenbruch der DDR hatte sich Mischa Wolf in
die Arme des starken russischen Bären geflüchtet, um der Strafverfolgung zu
entgehen. Seit knapp einem Jahr lebte er unbehelligt in Moskau. Doch nun wollte
er zurück. Nichts anderes bedeutete die Nachricht:
Mischa will den Wald verlassen. Weil er den Bären
fürchtet.
Und dabei
erhoffte er sich wohl Unterstützung von seinen alten Untergebenen.
In
Moskau musste etwas furchtbar schiefgelaufen sein, überlegte Meyer. Wenn die
Meldung stimmte, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, saß er zwischen
allen Stühlen: Er sollte dem KGB zuarbeiten, doch der bedrohte
offenkundig seinen alten Chef. Und dann war da noch der
Bundesnachrichtendienst, Deckname Cordula, seine Lebensversicherung.
Meyer wurde
plötzlich ganz kalt. Wem galt seine Loyalität?
Dem KGB ?
Wohl kaum,
wenn der Mischa bedrohte.
Dem BND ?
Aber was
sollte er denen erzählen? Das ging doch gar nicht! Wenn er sich dem
Bundesnachrichtendienst offenbarte, wäre das eindeutig Verrat. Verrat an all
den treuen Genossen, die bis heute auf ihren Plätzen ausgeharrt hatten und
genau wie Meyer immer treue Soldaten gewesen waren. Marxisten, Kundschafter im
Dienste des Friedens und der antiimperialistischen Solidarität. Ihr Dienstherr
war die Hauptabteilung Aufklärung. Ihr allein war man verpflichtet. Und wenn
deren alter Generalissimus in Gefahr war, musste ihm geholfen werden. Mit
allen Mitteln.
Noch am
selben Abend hatte sich Meyer vom Knast aus mit Naumann verbinden lassen. Er
sollte ihn morgen zum Freigang abholen. Keine weiteren Fragen. Es sei dringend.
Seitdem
lag er in seiner Zelle und grübelte. Die entscheidende Frage war, warum der
einst so allmächtige »Mann ohne Gesicht« sein Moskauer Exil verlassen musste.
Klar war, dass er über besondere Geheimdienstinformationen verfügte.
Informationen, die vielen wichtigen Leuten gefährlich werden konnten. Klar war
auch, dass Mischa von dem bevorstehenden Staatsstreich wusste.
Und
vielleicht war genau das das Problem: Zuletzt war Mischa Wolf als
Schriftsteller aufgetreten und hatte sich in seinen Romanen offen zur
Perestroika bekannt. So mancher nahm ihm das übel. Die Reformer um Gorbatschow
vertrauten ihm nicht und hielten ihn für einen Wendehals. Die kommunistischen
Hardliner sahen in ihm zunehmend eine Gefahr für ihre eigenen Pläne. Sollten
sie an die Macht kommen, wäre Wolf ein geeigneter Sündenbock für die
Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in seiner exponierten Stellung hätte er
den drohenden Untergang der DDR rechtzeitig erkennen
müssen. Warum also hatte er nicht gehandelt? Warum hatte er den Untergang nicht
aufhalten können? Weil er nicht wollte? Weil er ein Verräter war?
Mischa Wolf
kannte das paranoide System der Überwachung seit seiner Jugend. Er musste
wissen, was auf ihn zukommen würde, sollten sich die stalinistischen Hardliner
wieder durchsetzen. Er hatte seinen Apparat nach sowjetischem Vorbild
aufgebaut, nach dem Muster von Kontrolle und Gegenkontrolle, er hatte das
feinmaschige Netz der Spionage gesponnen, das so lange so erfolgreich arbeitete
und in dem sie nun alle hingen wie zappelnde Fische.
Misstraue
jedem außer dir selbst. Setze Zeichen und bestrafe die Verräter.
Wir
verlieren die Kontrolle, dachte Meyer, wir haben zwar noch alle Fäden in der
Hand, wissen aber nicht mehr, wer am anderen Ende hängt. Damit war jedes
Handeln unberechenbar geworden.
Er spürte,
wie die Angst in ihm hochkroch.
Punkt
sechs wurde die Zellentür entriegelt.
»Meyer,
raustreten zum Freigang!«
Er kam
nicht einmal mehr zum Frühstücken. Er zog sich hastig an, angetrieben von
hektischen Wachleuten. Meyer verstand die Eile nicht. Sie machte ihn
misstrauisch. Fast rennend ging es durch die endlosen Flure und Korridore des
Zellentraktes. Gittertüren öffneten und schlossen sich krachend, die Schritte
hallten auf den weiten Fluren.
In der
Schleuse dann das deutscheste aller Geräusche: das Abstempeln von Formularen. Mit
einem satten Schmatzer fuhr der Stempel ins tintengetränkte Kissen, um dann
nach kurzem bogenförmigen Schwung durch die Luft mit einem trockenen Plopp
bedrucktem Papier amtliche Gültigkeit zu verleihen.
Kurz darauf
öffneten sich für Meyer die Tore der Haftanstalt.
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