Kreuzberg
Zehn Stunden Freiheit, dachte
er. Würde er sie überleben?
Seine
dunklen Vorahnungen schienen sich zu bestätigen, denn eine schwarze
Wolga-Limousine der sowjetischen Botschaft schoss über die Seidelstraße heran
und stoppte quietschend. Zwei Männer sprangen heraus, packten Meyer und zwangen
ihn in den Wagen, der mit durchdrehenden Reifen wieder anfuhr und davonraste.
Meyer
spürte, wie ihm der Angstschweiß auf die Stirn trat.
In Moskau
musste der Staatsstreich begonnen haben. Und wahrscheinlich waren die
Putschisten erfolgreich, denn sonst würden sich die Sowjets nicht mit ihren
Dienstwagen bis vor die JVA wagen. Sie verzichteten auf
jede Tarnung und holten ihn ab, als wären sie schon wieder Herr in Deutschland.
Was wollten
sie von ihm?
Aus den
Augenwinkeln musterte er die Russen. Alle drei waren jung. Meyer schätzte sie
auf höchstens dreißig. Muskulöse, durchtrainierte Typen, die ihm
unmissverständlich bedeuteten, keine Fragen zu stellen. Die Kerle waren ganz
sicher kein typisches Botschaftspersonal. Meyer vermutete, dass sie einer
Sondereinheit angehörten, irgendeiner Spezialtruppe des KGB .
Der Wolga
missachtete die rote Ampel an der Holzhauser Straße, ging fast ungebremst mit
sirrenden Reifen rechts herum in die Kurve und raste Richtung Stadtautobahn.
Verdammt,
dachte Meyer, die sind komplett wahnsinnig geworden. Unruhig drehte er sich
herum und sah verstohlen aus dem Heckfenster.
Dann war
ihm klar, vor wem die Russen flohen. Denn dicht hinter ihnen fuhr, mehrmals
Lichthupe gebend, ein fünfer BMW und ließ sich nicht
abhängen.
24 SCHNAUFEND und mit für seine Körperfülle
recht ausladenden Schritten durchmaß Hünerbein die endlosen Flure des
Kreuzberger Finanzamtes.
Sophia
Hertz saß im zweiten Stock vor einem Computerbildschirm und tippte konzentriert
auf einer Tastatur herum. Eine gut aussehende Frau um die Vierzig mit modisch
frisierten, hennagefärbten Haaren und einer knallgrünen Brille, deren Bügel mit
auffälligen Strasssteinen besetzt waren. Dazu trug sie ein Kostüm, genauso grün
wie die Brille, und eine weiße Bluse mit hochgestelltem Kragen.
Als
Hünerbein eintrat, sah Sophia Hertz fragend auf, den Mund leicht geöffnet und
von derselben Farbe wie ihr Haar.
Nett,
dachte Hünerbein, dieser Blumenhändler hat ein Faible für hübsch zurechtgemachte
Frauen.
Er lächelte
freundlich und stellte sich, seinen Dienstausweis vorlegend, vor.
»Kripo!«
Der Mund von Sophia Hertz blieb noch weiter geöffnet auf dem »o« stehen.
Hünerbein
hob entschuldigend die Schultern. »Beamter eben. Wie Sie auch.«
»Und was
führt Sie zu mir?«
»Es ist
vielleicht etwas heikel«, begann Hünerbein, »aber ich interessiere mich für Ihr
Verhältnis mit dem Blumenhändler Hüseyin Misirlioglu.«
»Ach! Hat
er was verbrochen?«
»Er wird
offenbar erpresst …« Hünerbein wollte von der entführten Tochter
berichten, doch Sophia Hertz kam ihm zuvor.
»Ach was,
erpresst«, winkte sie ab und lachte. »Der gute Hüseyin schreckt wirklich vor
nichts zurück. Er versucht mit allen Mitteln, sein Geld vor uns in Sicherheit
zu bringen. Warten Sie mal!«
Sie erhob
sich von ihrem Stuhl und zog einen umfangreichen Aktenordner aus dem Regal
hinter sich. Sie blätterte darin herum und legte den Ordner aufgeschlagen dann
so auf ihren Schreibtisch, dass Hünerbein einen Blick darauf werfen konnte.
»Sehen Sie,
das sind Hüseyins Kontoauszüge vom vorvergangenen Jahr.«
Sophias
makellos lackierter, sorgsam manikürter Fingernagel fuhr die Spalten diverser
Abbuchungen entlang.
»Hier hat
er immer Geld abgehoben. Mehrmals monatlich. Immer kleinere Beträge. Insgesamt
summieren sie sich aber auf über hunderttausend Mark.«
»Das könnte
doch durchaus ein Indiz für eine schon länger anhaltende Erpressung sein.«
»Eine
Erpressung über mehrere Jahre?« Sophia Hertz verneinte. »Ich kenne Hüseyin
mehr, als mir lieb ist.« Sie bekam einen sehnsüchtigen Blick. »Das sind kleine
Finanzpolster für unzählige Liebesnester, wissen Sie?«
Man sah ihr
an, wie gern auch sie in ein solches Liebesnest geraten wäre.
»Er ist ein
unheimlich gut aussehender und charmanter Mann. Das zieht uns Frauen an.«
»Sie meinen
also, er hat das Geld irgendwie auf die Seite gebracht?«
»Leider
haben wir keinerlei Ahnung, wo.« Sophia Hertz seufzte tief. »Nachdem er seinen
Streit mit Recip Kahali begraben hatte, lief das Blumengeschäft besser als je
zuvor –«
»Stopp«,
unterbrach Hünerbein den
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