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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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Mädchen ausleuchtet. Aber das ist falsch. Das ist Tageslicht.« Er sieht
auf. »Die sitzt wahrscheinlich vor einem Fenster. Irgendwo an einer S-Bahn-Strecke.
An der Hochbahn in einem Abbruchhaus, oder so.« Damaschke steht auf, läuft
nachdenklich hin und her, spricht laut vor sich hin. »Und als der Zug
vorbeifährt, wird das Sonnenlicht von dessen Fenstern an die Wand reflektiert.«
    »Okay.« Das
klingt einleuchtend. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo das genau sein
könnte.«
    »Das ist
eine Gleichung mit mehreren Unbekannten«, murmelt Damaschke und schnappt sich
Stift und Papier. »Aber mit ein paar richtigen Parametern können wir das
ausrechnen.«
    Auwei,
denke ich, jetzt wird’s kompliziert.
    »Wir
brauchen eine Uhr«, Damaschke wühlt in seinen Regalen herum, »Sextant, Zirkel.
Schauen wir mal! – Warst du gut in Mathematik?«
    Niemals. In
Mathe war ich die totale Niete.
    »Dann
schnapp dir mal den Taschenrechner da drüben.« Damaschke kommt mit einem Stapel
Bücher zurück. Sonnenstände, Erddrehung, Mondkalender und andere planetarische
Konstellationen.
    »Fängst du
jetzt auch mit Astrologie an?«
    »Astronomie«,
sagt er mit Nachdruck und packt noch die aktuellen S-Bahn-Fahrpläne auf den
Tisch, »ist etwas ganz anderes.«
    Na, da bin
ich ja mal gespannt.

29    DAS AUFFÄLLIGE, Ende des 19. Jahrhunderts aus
roten Backsteinen im Schweizer Landhausstil erbaute Gebäude war nie Wohnsitz
reicher Leute. Obwohl es so aussah: Reich verziert, mit einem Altan an der
Seitenfront, seinem Erker und dem weit überstehenden Kreuzdach wirkte das
direkt am Viktoriapark gelegene Haus wie eine prächtige alte Villa. Früher
diente sie als Gärtner- und Maschinenhaus. Der Park brauchte Pflege und starke
Pumpen für den Betrieb des Wasserfalls. Noch immer befanden sie sich im Keller
des »Villa Kreuzberg« genannten und inzwischen als soziokulturelles Zentrum
genutzten Anwesens.
    Offenbar
mochten sie es laut in der Villa Kreuzberg, denn Beylich dröhnte Rap-Musik
entgegen, wummernde Bässe, Polizeisirenen und der harte, energische
Sprechgesang von Hijack – The Terrorist Group.
    Die Wände
waren mit grellen Graffiti verziert. Ein paar Mädchen spielten Billard, und
Beylich brauchte einen Moment, bis er sich bei der jungen Frau an der schmalen
Bar verständlich gemacht hatte, denn es gab hier gleich mehrere Projekte:
Interkulturelle Kommunikation für Mädchen und Frauen zum Beispiel, den Jugendtreff
und das Mädchenzentrum Kreuzberg.
    »Henriette
Cordes«, schrie er gegen den Hijacker an. »Das muss hier eine Sozialarbeiterin
sein.«
    »Henriette
Cordes bin ich«, rief die junge Frau zurück.
    »Dann
können Sie mir vielleicht etwas über Fatma Misirlioglu erzählen?«
    »Was?«
    »Fatma
Misirlioglu«, brüllte er.
    »Ich
verstehe kein Wort!« Die junge Frau kletterte hinter ihrem Tresen hervor und
bedeutete ihm mitzukommen. Er folgte ihr in die hinteren Räume und bewunderte
Henriette Cordes’ Haarpracht: viele hundert geflochtene Rastazöpfe, die ihr bis
fast zu den Hüften reichten. Irre! Es musste ewig dauern, bis man damit fertig
war.
    »Hier ist
es ruhiger.« Henriette Cordes öffnete die Tür zu einem kleinen Raum, dessen
Fenster nach hinten raus gingen, Richtung Park, und der wohl so was wie ein
Büro war. Es gab ein Telefon, eine Schreibmaschine und einen Kopierer sowie ein
Faxgerät. Überall lagen halb fertige Entwürfe diverser Flyer herum, ein
Coca-Cola-Automat surrte vor sich hin, und die Wände zierten Konzertplakate und
Plattencover von Rappern wie MC  Thick und Optimist
Prime.
    Henriette
Cordes räumte einen Stuhl frei. »Setzen Sie sich doch.«
    Beylich
nahm Platz und hielt dem neugierigen Blick stand, mit dem sie ihn bedachte.
Henriette Cordes war hübsch, hatte Sommersprossen auf der Nase und blaugraue,
freundliche Augen. Mit verschränkten Armen lehnte sie am Fenster und begann zu
lächeln.
    »Ossi,
oder?«
    »Sieht man
mir das an?«
    Die Frage
war Blödsinn, denn Beylich wusste, wie er aussah. Zeitgeist war nicht sein Ding.
Noch immer trug er seine Hornbrille aus DDR -Produktion. Er fand Jeans
unbequem und war stattdessen ein Freund des Wollpullunders und weit
geschnittener Blousonjacken aus pflegeleichter Kunstfaser. Na und? Was war
daran schlecht? Der Charakter formt den Mann, war Beylichs Devise. Nicht das
Aussehen.
    Dass diese
Henriette Cordes eine nette Person war, schloss er auch nicht aus deren weiten
Cargohosen und dem bauchfreien Top. Und sosehr ihn auch ihre

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