Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Mein Vertrauen in einen Gott, mein Glauben und meine Hoffnung sind irgendwo auf den Schlachtfeldern verloren gegangen.« Bitter klang es, doch es war das erste Mal, dass David eine Andeutung zu dem machte, was er erlebt hatte, und Paul, ein geduldiger und feinfühliger Begleiter, begann vorsichtig nach der Öffnung zu tasten, die er jetzt spürte.
»Mag dein Glauben an Gott dort geblieben sein, David, der an die Dämonen ist noch lebendig, scheint’s. Hier, in diesem tiefen, stickigen Tal verdichten sie sich, nicht wahr?«
David stöhnte unwillkürlich. »Wenn du wüsstest...«
»Ich wüsste es, wenn du es mir anvertrautest, mein Freund.«
Stumm schüttelte David seinen Kopf. Aber dann erzählte er, mit sehr leiser Stimme.
»Meine Dämonen ähneln nicht jenen steinernen Abbildern an den Kirchenmauern oder denen auf den Höllenbildern des Bosch. Sie tragen keine tierischen Fratzen – es sind die Gesichter von Kameraden, Freunden, Fremden und Feinden, von Entsetzen und Grauen verzerrt, von unmenschlichen Schmerzen gemartert, in schreiender Todesangst entstellt. Sie sind umgeben von dem Gestank nach Blut und Verwesung, von Exkrementen und Erbrochenem, von verzweifelten Hilferufen, Stöhnen und gepeinigtem Keuchen. Wie viele haben jenen Gott gerufen in ihrer Verzweiflung! Sie verfolgen mich, Paul. Ich habe Wunden gesehen, Verstümmelungen, Leichen – Elend. Das alles, weil ein paar verkalkte Idioten nicht einsehen wollten, dass Krieg kein Manöver ist. Unsere Generäle haben die Leute ins feindliche Feuer gejagt. Und dann auf den Schlachtfeldern jämmerlich verbluten lassen.«
»Jena?«
»Ja, und einige davor und danach. In Magdeburg waren wir eingeschlossen. Herrgott, ich habe meinen Vorgesetzten geschlagen, um wenigstens eine Chance zu bekommen, damit wir den Rückzug antreten konnten.«
»Es ist dir nicht gelungen?«
»Sie haben kapituliert. Zwanzigtausend sind in Gefangenschaft geraten, mussten nach Frankreich marschieren, halb verhungert, viele verletzt...«
»Und dich hat man kassiert.«
»Ja.«
Paul stand auf und strich mit den Händen durch ein paar Blätter, die auf der sonnenbeschienenen Südseite der Klamm wuchsen, und kam mit einigen roten Beeren zurück.
»Wilde Erdbeeren. ›Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.‹ Oder auch der Dämonen.« Er reichte sie David, der sie verwundert kostete.
»Sie sind sauer, aber ich will mich nicht beklagen.«
»Sie löschen den Durst.«
»Wirst du auch dafür sorgen, dass mein Haupt gesalbt wird?«, fragte David leichthin, und Paul lachte auf.
»Du erinnerst dich also doch.«
»Ja, es ist nicht alles verloren, scheint’s. Mein Vater – mein leiblicher Vater, hat manchmal diesen Psalm als Nachtgebet für mich gesprochen, als ich ein kleiner Junge war. Mein Vater gehörte dem Kölner Domkapitel an«, fügte er erklärend hinzu. »Meine Mutter hat einen Major Cattgard geheiratet. Der, den ich niedergeschlagen habe.«
»Dann bist du katholisch?«
»Trennen uns jetzt Welten, Protestant?«
»Nur ein paar kleine Dämonen. Hat dir dein Vater den Glauben daran mitgegeben?«
»Nein, darauf bin ich ganz alleine gekommen. Mein Vater – nun, er hat seine eigenen Ansichten, denke ich. Er hat mir lediglich die Idee eines großen Weltenerbauers mitgegeben.« David zögerte einen Augenblick, dann schloss er: »Der gute Hirte ist auf den blutgetränkten Feldern geblieben. Der Baumeister – er ist noch nicht ganz verloren.«
Seltsam eindringlich musterte Paul seinen Freund und nickte dann. »Schön, durchqueren wir nun dieses Tal.«
»Ja, brechen wir auf. Es scheint mir jetzt nicht mehr ganz so erdrückend zu sein.«
Während er zügig dahinwanderte, erlaubte er sich erstmals, einen distanzierten Blick auf seine Lage zu werfen. Bisher hatte Bitternis in ihm gewütet, Schuld, aber auch das Gefühl, von einem ungerechten Schicksal geschlagen worden zu sein. Aber war es denn wirklich so niederschmetternd, was ihm selbst widerfahren war?
Am darauffolgenden Tag nahmen sie einen Weg über die Hochebene in der Hoffnung, hier den einen oder anderen Windhauch zu erhaschen. Doch die Luft blieb meist unbewegt, und einmal meinte David, es fühle sich an, als bewegten sie sich in kochendem Sirup. Sie fanden, als die Sonne im Zenit stand, einen Lagerplatz im Schatten einer Ruine. Ein Maurer aus alter Zeit hatte einen perfekten Spitzbogen gestaltet, dauerhaft und das einzige überlebende Fragment eines größeren Gebäudes.
»Was mag das gewesen
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