'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'
der Kneifzange. Ich bleibe hart, verstecke aber zur Sicherheit mein gesamtes Werkzeug.
12.10. Tom will einen Taschengeldvorschuss und sagt, er würde dafür auch sein Zimmer aufräumen. Ich erkenne darin zwar den sanften Versuch der Erpressung, zahle in Anbetracht des Kinderzimmerzustandes aber bereitwillig.
13.10. Wieder kein Kino. Meine Freundin hat sich beim »Milchabpumpen verstillt« und nun sei die eine Brust größer als die andere und so traue sie sich nicht aus dem Haus. Ob ich sie nicht besuchen wolle. Ich will und trage dann den ganzen Abend ein schreiendes Kleinkind durch die Wohnung, während die schiefbusige Mutter vor dem Fernseher einschläft.
14.10. Beim Überqueren der Straße werde ich um ein Haar von einem radelnden Viertklässler über den Haufen gefahren. Sein Kommentar: »Oh Mann, jetzt hast du mir meinen Rekord versaut!«
15.10. Tom will wissen, warum jeden Tag eine alte, »zerlumpte« Frau die Mülleimer bei der Schule durchwühle. Ich erkläre ihm in kurzen Worten, was »Armut« bedeutet.
»Und wenn sie jemand ansprechen will, rennt sie weg«, sagt Tom.
Ich erkläre ihm in kurzen Worten, was »Scham« bedeutet. Tom wirkt sehr nachdenklich.
16.10. Es verschwinden Anziehsachen und Lebensmittel aus dem Haus. Auf energisches Nachfragen gesteht Tom, er habe die Sachen für die alte Frau in die Mülleimer bei der Schule geschmissen. Diesmal fällt meine Erklärung länger aus; bin aber sehr stolz.
17.10. Endlich Kino! Nachdem meine Freundin den ganzen Film verschlafen hat, sagt sie, Kinder raubten einem echt den letzten Nerv.
Ich sage: »Aber man erlebt die tollsten Sachen.«
Sie glaubt mir kein Wort.
18.10. Die Geschwindigkeitsmesstafel vor unserem Haus wird entfernt. Der Verkehr beruhigt sich zusehends.
Wer solche Freunde hat ...
Aus Gründen, die ich schwer erklären kann, nehme ich manchmal Einladungen zum Abendessen an. Ich bereue das zwar meist, aber dann ist es zu spät, und ehe ich mich‘s versehe, befinde ich mich in dekorativ hergerichteten Behausungen und fühle mich grässlich.
Es liegt gar nicht daran, dass diese Wohnungen immer geschmackvoller und teurer und aufgeräumter sind als meine, dass ich die Schuhe vor der Tür ausziehen muss und zum Rauchen auf den Balkon, dass die Kinder der Gastgeber natürlich schon selbstständig ins Bett gegangen sind, während das eigene zu Hause den Babysitter terrorisiert, dass das Essen nicht zu toppen ist und der Wein unerreichbar, dass überhaupt alle Anwesenden schöner, erfolgreicher und ausgeschlafener sind als ich.
Damit kann ich umgehen. Die erste Gesprächsstunde schalte ich einfach auf Durchzug.
»Fritz arbeitet jetzt für diese Unternehmensberatung.«
»Ach ja, und was macht er so?«
»Er hat wahnsinnig viel zu tun. Möchtest du noch einen Schluck?«
»Nein danke, ich muss noch fahren.«
»Sag mal, euer Boden, das ist wirklich Laminat? Hätte ich nicht gedacht.«
»Das Balsamico-Dressing ist ein Gedicht.«
»Tim hatte wirklich Pech mit seinem Immobilienfonds.«
»O ja, das kenne ich ... Bei mir hilft Eisenkraut, wenn ich gestresst bin.«
»Gegen Mallorca kann man viel sagen, aber im Landesinneren: zau-ber-haft!«
Irgendwann aber wird klar, dass man sich so viel gar nicht zu erzählen hat und dass die einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass unsere Kinder alle etwa gleich alt sind, und ab da wird nur noch über diese geredet und ich fühle mich grässlich.
Es geht um lauter wichtige Dinge, die Wahl der weiterführenden Schule der Kinder, zum Beispiel. Und den damit verbundenen Leistungsdruck. Generell den Druck. Und nicht nur in der Schule. Auch im Sportverein.
»Der Trainer zieht jetzt ganz schön an, aber das find ich gut, dann tut sich da mal was, und die Jungs wollen das ja auch so.«
In der Musikschule. »Es ist so wichtig, dass Kinder ein Instrument lernen. Natürlich muss man hinterher sein, dass sie üben, aber später ...«
Eine Frau erzählt, dass ihr neulich bei ihrer Tochter die Hand ausgerutscht sei. Gewollt habe sie das nicht, aber Kinder könnten einen wirklich dermaßen reizen.
»Das hört sich jetzt vielleicht blöd an«, sagt sie, »aber das hat mir mehr wehgetan als ihr.«
Das hört sich mehr als blöd an, denke ich. Ein anderer spielt den Tröster.
»Das wird der Kleinen schon nicht geschadet haben.«
Ich überlege, ob ich ihm eine reinhauen soll. Und dann sagen: »Das tut mir mehr weh als dir.« (Wahrscheinlich würde das bei ihm sogar stimmen.)
Aber ich überlege eben nur. Denke
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