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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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vor, Sie wären ein junger Jäger und lebten vor 30   000 Jahren im Niltal. In meinem zuvor entworfenen Spiel des Todes habe ich »Tauben« als Synonym für Tiere verwendet, die grundsätzlich nicht kämpfen, und »Falken« für solche, die immer kämpfen. In diesem Zusammenhang will ich »Schafe« nehmen für Menschen, die stets der Herde folgen, und »Ziegen« für solche, die das grundsätzlich nicht tun. Unser junger Jäger ist eine Ziege; voller Selbstbewusstsein geht er davon aus, dass er vieles besser weiß als andere, und ersinnt ein neues Design für Pfeilspitzen. Lassen Sie uns annehmen, seine Version hat längere Widerhaken, so dass sie in der Flanke einer verletzten Antilope länger stecken bleibt als die alte. Zu seinem Erstaunen verlachen seine Schafskollegen seine Idee und stellen sich auf den Standpunkt, dass ihre Vorfahren doch auch keine Widerhaken gebraucht hätten, warum also sie.
    Wie Flucht und Angriff im Tauben-Falken-Spiel haben auch hier Bewahrung und Erneuerung beide ihre Kosten und ihren Nutzen. Auf der Kostenseite des Erneuerers stünde zum Beispiel die Zeit, die er investiert hat, um die neue Pfeilspitzen herzustellen und richtig zu gebrauchen (setzen wir den Preis mit zehn Punkten an). Und – schwerwiegender vielleicht – der Statusverlust, den es bedeutet, sich gegen das Althergebrachte zu stellen (zwanzig Minuspunkte). Andere Männer wollen sich vielleicht an einer Jagd mit jemandem, der so verschroben ist, nicht beteiligen, weswegen der ziegenhafte Erneuerer trotz seiner besseren Technik möglicherweise am Ende mit weniger Fleisch dasteht (nochmals minus zehn Punkte). Zu guter Letzt lässt er die ganze Sache womöglich fallen.
    Es sei denn, der Nutzen wiegt die Kosten auf. Wenn seine Pfeilspitze tatsächlich dazu führen sollten, dass er mehr Tiere erlegt, hätte er nicht nur den Gewinn, dass er mehr zu essen bekommt (sagen wir zwanzig Punkte), sondern gewinnt womöglich auch an Ansehen, weil er seine Antilopensteaks großzügig mit anderen teilen kann (25 Punkte). Ein derart erfolgreicher Mann hat vermutlich mehr Aussicht auf Sex (weitere zehn Punkte), der die Bilanz nun sicher im Bereich der schwarzen Zahlen verankert (bei 15 Punkten). Im Laufe mehrerer Generationen werden sich womöglich seine Ziegen- und Erfindergene über die gesamte kleine Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft verbreiten. Doch lange bevor es so weit ist, wird der kulturelle Wandel den biologischen überholt haben, weil andere Männer in dem Haufen seine Pfeilspitzen nachbauen werden. Der Punktevorsprung des Erfinders wird zusammen mit seinem Glück bei den Frauen schrumpfen, aber vielleicht nicht ganz auf null, weil ja nun jeder mehr zu essen bekommt – es sei denn, die neue Technik des Jägers wäre derart effizient, dass dadurch die gesamte Antilopenpopulation ausgerottet wird, was neue Folgen und Verkettungen von Umständen mit sich brächte …
    Das Ganze macht genauso viel Spaß wie das Spiel mit Tauben und Falken. Wir können die Geschichte in alle möglichen Richtungen treiben lassen, denn schon minimale Veränderungen bezüglich des Gewinns können das Ergebnis dramatisch verändern. Aber im Prinzip geht es nur darum, dass die Schaf-und-Ziegen-Partie im wirklichen Leben wieder und wieder gespielt wird und das Ergebnis jedes Mal ein anderes ist. Wenn die Kosten eines Verstoßes gegen die Traditionen in der Gruppe des Erfinders hoch sind, wird sich die neue Pfeilspitze nicht durchsetzen, aber wenn sie wirklich besser ist, werden auch Leute aus anderen Gruppen darauf kommen, und über kurz oder lang wird sie sich andernorts etablieren. Ziegenfreundliche Gruppen werden dann den Schaflastigen jagdtechnisch überlegen sein und diese dazu zwingen, die neue Spitze letztlich doch zu übernehmen – oder ihre Ernährung umzustellen, vielleicht auch fortzuziehen oder gleich den Erfinder um die Ecke zu bringen.
    Derartige Kulturkriege sind etwas spezifisch Menschliches. Auch wenn man von ein paar anderen Tieren sagen kann, dass sie über eine Regionalkultur verfügen (insbesondere Schimpansen, bei denen jede Gemeinschaft Dinge ein wenig anders handhabt als ihre Nachbarn), scheint keines davon zu einer kumulativen kulturellen Entwicklung imstande zu sein, bei der eine Idee zur nächsten führt und sich das Ergebnis im Laufe von Generationen potenziert. Die evolutionären Konsequenzen der Entstehung von Kultur lassen sich ein bisschen mit der »Erfindung« der sexuellen Fortpflanzung vor 1,5 Milliarden Jahren

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