Krieg – Wozu er gut ist
könnte. Man hat eine Reihe aufgestellter Dominosteine«, erklärte er, »und stößt man den ersten Stein um, kann man mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass auch der letzte sehr schnell umfallen wird. Es könnte also zum Anfang einer Auflösung kommen, die die tiefgreifendsten Auswirkungen haben würde.« 9
Ob das als Analyse Indochinas in den 1950er Jahren taugte, sei dahingestellt, es ist jedenfalls eine ausgezeichnete Beschreibung des Problems mit den Steppen im 1. Jahrhundert v. Chr. Als die riesigen Kavallerie-Armeen der Han langsam, aber sicher der Xiongnu Herr zu werden begannen, migrierten viele der Nomaden westwärts in Länder, die bis dahin die angestammten Weidegebiete der Yuezhi-Völker gewesen waren. Die Yuezhi zogen noch weiter nach Westen, was sie in das Territorium der Skythen brachte. Als der nächste Dominostein fiel, zogen die Skythen (die Inder nannten sie Saken) südwärts durch das heutige Afghanistan, überquerten den Khaiberpass und stiegen hinab ins Indus-Tal. Spätestens 50 v. Chr. hatten die Saken einen Gutteil des indischen Nordwestens überrollt.
Ein Jahrhundert später – nach weiteren fast vergessenen Kavalleriekriegen in den Steppen – folgten die Yuezhi den Saken über den Hindukusch. Die Saken tiefer ins Landesinnere drängend, eroberten die Yuezhi ein riesiges Gebiet, das sich vom heutigen Turkmenistan bis zum mittleren Ganges erstreckte. Historiker sprechen vom Kuschana-Reich. Die Kuschana gediehen und entwickelten sich zu einer der größten Kavalleriemächte der damaligen Zeit. Spätestens im 2. Jahrhundert n. Chr. kontrollierten ihre gefürchteten berittenen Bogenschützen, die in zahllosen Skulpturen verewigt sind, die Seidenstraßen zwischen China und Rom. Die Kuschana führten sogar ihre eigenen Präventivkriege, darunter einen gegen eine Expedition der Han nach Afghanistan.
Indiens Erfahrung enthüllte eine schlichte Tatsache: Als die Dominosteine fielen und die Agrarreiche unter Druck gerieten, konnten sie entweder zu Kavalleriemächten werden, wie das bei Persien und China der Fall war, oder sich, wie Indien, von nomadischen Völkern überrollen lassen, die bereits Kavalleriemächte waren – in diesem Fall wandelten die Invasoren die eroberte Gesellschaft ohnehin zu einer Kavalleriemacht um. Um Revolutionen im Militärwesen ist kein Herumkommen.
In denselben Jahren musste Chinas Han-Imperium (das den ersten Dominostein in die Steppe gestoßen hatte und damit für Indiens Kummer verantwortlich war) eine weitere unumstößliche Tatsache lernen. China hatte an seiner Nordgrenze seit 200 v. Chr. Krieg gegen die Xiongnu-Nomaden geführt; an der Westgrenze dagegen, die gut 150 Kilometer waldiges Bergland von der Steppe trennte, war alles ruhig gewesen. Das änderte sich, als die Xiongnu um 50 v. Chr. migrierten: Während ein Zweig des Bunds nach Westen zog und die Dominosteine umwarf, die die Yuezhi und Saken nach Indien trieben, zog ein zweiter Zweig nach Süden, wo er die Qiang-Bauern an Chinas Westgrenze zu plündern begann.
Jahrzehntelang hatten die Qiang China durch eigene erbitterte Grenzkriege gegen räuberische Nomaden abgeschirmt; im 1. Jahrhundert n. Chr. jedoch begannen die Qiang, eingezwängt zwischen den Nomaden und dem Han-Reich, eigene Staaten zu bilden. Große, bestens organisierte Gruppen von Qiang zogen auf Han-Territorium, um von den Xiongnu wegzukommen, und sie scheuten dabei nicht vor dem Kampf mit den imperialen Truppen zurück, wenn es nicht anders ging. Die Qiang wurden damit vom Schild zum Schwert, das auf die lebenswichtigen Teile des Reichs einstieß.
Chinesische Grenzkontrolleure sahen genau, wohin das führen würde. »Vor kurzem noch«, so bemerkte einer von ihnen 33 v. Chr., »haben westliche Qiang unsere Grenzen bewacht und sind so regelmäßig in Kontakt mit Angehörigen der Han gekommen«; aber seit mehr Qiang auf Gebiete der Han umsiedeln, so fuhr er fort, »rauben kleine Funktionäre und gierige Gemeine den Qiang Vieh, Frauen und Kinder. Das hat bei den Qiang zu Hass geführt, und sie haben sich dagegen erhoben.« 10
Im 1. Jahrhundert n. Chr. entglitt den Han die Kontrolle über ihre Westgrenze. 94, 108 und noch einmal 110 n. Chr. liefen gewaltige Aufstände oder Invasionen (sie waren schwierig auseinanderzuhalten) aus dem Ruder. Die Grenzgebiete versanken in einer Spirale der Gewalt. »Selbst Frauen tragen Hellebarden und schwingen Speere, haben einen Bogen in der Hand und tragen Pfeile auf dem
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