Krieger der Stille
Namen
Verfolgt ihr eure Untertanen.
Doch langsam, aber unerbittlich
Dreht das Rad der Zeit sich.
Wenn der Tyrann sein Haupt in Demut neigt,
Der Demütige zum König aufsteigt.
Wenn der Henker den Kopf in die Schlinge legt,
Das Herz des Opfers weiterschlägt.
Wenn sich der Jäger zum Beutetier macht,
Dem Tier die Freiheit lacht.
Wenn der Wüstling auf Orgien verzichtet,
Die Reinheit ihr Haupt aufrichtet.
Wenn der Greis zum Kinde sich macht,
Das Kind bekommt die Macht.
Wenn Tyrannen zu Dienern werden,
Liebt man die Diener auf Erden.
Prophetische Verse von Terra Mater
Region der versunkenen Felsen
D ame Sibrit Ang ging in den hängenden Gärten vor ihren Gemächern des herrschaftlichen Palastes umher, als die rosige Morgendämmerung anbrach. Sie trat wieder auf den Balkon aus weißem Optalium, stützte sich auf das kunstvoll geschnitzte Geländer und betrachtete in Gedanken versunken die langsam intensiver werdende Röte des morgendlichen Himmels.
Ein abscheulicher Traum hatte ihr den Schlaf geraubt, als Jaunor, der letzte der fünf Satelliten der Zweiten Nacht, noch kupferfarbene Glanzlichter ins tiefe Blau streute. Angsterfüllt und in Schweiß gebadet hatte sie sich hastig erhoben und nicht einmal ihren Colancor angezogen, sondern nur ein leichtes Cape übergestreift und die Fülle ihres Haars unter einer Kapuze versteckt.
Ein Spaziergang im duftenden Garten wird mir guttun, hatte sie gedacht, und mich vielleicht den Albtraum vergessen lassen.
Doch der kurze Gang durch die nächtliche, nur vom betörenden Gemurmel des Brunnens unterbrochene Stille unter dem prächtigen Himmel hatte ihre quälenden Ängste nicht besänftigen können.
Dame Sibrit Ang hatte gute Gründe, besorgt zu sein: Schon seit sechs Jahren wurde sie von Träumen heimgesucht, die sich als Vorahnungen erwiesen. Doch als Gemahlin des Herrschers Ranti Ang wollte sie dem Ruf der
Familie nicht schaden und hatte bisher niemandem von diesem Phänomen erzählt. Auch fürchtete sie, von der Kirche des Kreuzes der Hexerei und des geheimen Umgangs mit Dämonen beschuldigt zu werden und den Feuertod sterben zu müssen.
Seit des aufsehenerregenden Prozesses gegen den Smella Sri Mitsu und seine Verbannung war kein Würdenträger mehr vor den heiligen Tribunalen und den Scaythen der heiligen Inquisition sicher. Unter dem geringsten Vorwand nutzte die Kirche des Kreuzes jede Gelegenheit, um ein Exempel zu statuieren. Deshalb hütete Dame Sibrit das Geheimnis ihrer visionären Träume. So hatte sie die Ermordung Tist und Maryt d’Argolons sowie die des Seigneurs der Konföderation vorausgesehen – und den Zerfall des gesamten naflinischen Systems …
Einer ihrer Träume kehrte häufig wieder: Ein junger unbekannter Mann war auf der Suche nach einer schönen Syracuserin, wobei die Zukunft aller Rassen des Universums von der Vereinigung dieser beiden Menschen abhing. Eine Geschichte, die noch kein Ende hatte …
Dank ihrer hohen Stellung verfügte Dame Sibrit glücklicherweise über vier Gedankenschützer. Sie wusste – und diese Gewissheit war überaus tröstlich –, dass die vier ständig und unerschütterlich in ihren weißen und rot gepaspelten Kutten – dies ein Zeichen des herrschaftlichen Schutzes – über ihre Gedanken wachten.
Jetzt wurde der Himmel purpurrot. Der Tag tauchte alles in rotes Licht, die dreißig kegelförmigen Türme des riesigen Palastes, die Flachdächer aus Lapislazuli mit ihren weißen Brüstungen und unzähligen Türskulpturen aus den syracusischen Legenden: Drachen, Monster, Schimären und Wasserspeier; die Bäume und Büsche der darunter
liegenden Gärten; die Wege und Pfade. Unter ihr schlängelte sich der Tiber Augustus träge und blutfarben durch das Stadtviertel Romantigua. Dieses Rot in allen Schattierungen war der Vorbote Rose Rubis’, der Sonne des Ersten Tages.
Und wie Dame Sibrit das Erwachen der Stadt betrachtete, beschlich sie die Vorahnung, es sei das letzte Mal, dass ihr dieser atemberaubende Blick auf Venicia vergönnt sei. Ein Gedanke, der sie mit großer Traurigkeit aber zugleich auch mit ungeheurer Erleichterung erfüllte.
Wieder hatte sie den Tod in ihrem Traum gesehen. Der Tod war in Gestalt einer Nymphe, eines lachenden jungen Mädchens aufgetreten, scheinbar harmlos, doch in ein durchsichtiges schamloses Gewand gehüllt …
Die Nymphe lädt sich selbst zu einem Festmahl ein, entblößt ihren Körper, tanzt und verführt den Seigneur
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