Kriegerin der Nacht
auf einen neuen Gipfel trieb.
Sie sprach voller Wildheit, um ihre Angst zu vertreiben. »Du willst wissen, wie das reale Leben ist? Meine Mutter hat mich in einem Pappkarton auf einem Parkplatz ausgesetzt. Er war mit Zeitungen ausgestopft, wie etwas, das man für einen Welpen benutzen würde. Es lag daran, dass ich keine Windeln tragen konnte, ich steckte zwischen meinen Gestalten fest - ein Baby mit einem Schwanz und Ohren wie eine Katze. Vielleicht war das der Grund, warum sie mit mir nicht fertig wurde, aber ich werde es nie erfahren. Das Einzige, was ich von ihr habe, ist ein Brief, der in dem Karton war. Ich habe ihn immer bei mir.«
Kelly fischte etwas aus der Tasche ihres Overalls. Sie hatte nie beabsichtigt, es irgendjemandem zu zeigen, und schon gar nicht jemandem, den sie noch keine vierundzwanzig Stunden kannte. Aber sie musste Galen überzeugen; sie musste dafür sorgen, dass er für immer verschwand.
Ihr Portemonnaie war schmal - keine Fotos, nur Geld und Ausweise. Sie zog einen zusammengefalteten Zettel hervor, mit Knitterfalten, die die Zeit geglättet hatte, und Schriftzügen, die von blauer Tinte zu bleichem Purpur verblasst waren. Aber die Worte waren deutlich zu lesen.
»Es war ihr Vermächtnis für mich«, sagte Kelly. »Sie hat versucht, die Wahrheit weiterzugeben, das was sie über das Leben gelernt hatte.«
Galen griff nach dem Zettel, als handele es sich um einen verletzten Vogel.
Kelly beobachtete, wie sein Blick über die Zeilen wanderte. Natürlich kannte sie die Worte auswendig und in diesem Moment hallten sie in ihrem Geist wider. Es waren insgesamt nur zwölf - ihre Mutter war eine Meisterin des kurzen Ausdrucks gewesen.
***
Jeder stirbt...
Schönheit verblasst...
Liebe vergeht...
Und du wirst immer allein sein.
***
Kelly konnte an Galens Augen, die sich vor Entsetzen weiteten, erkennen, bei welcher Zeile er gerade war.
Dann lächelte sie ihn an, kein nettes Lächeln, und steckte den Zettel wieder ein.
Er betrachtete sie. Und trotz allem, was sie über ihn wusste, überraschte sie die unendliche Tiefe seines Schmerzes. Er starrte sie mit diesen grüngoldenen Augen an, die so tief wie Gebirgsseen waren - und dann trat er vor.
»Das glaubst du doch nicht«, sagte er wild und packte sie an den Schultern.
Kelly war verblüfft. Er hatte sie in Aktion gesehen. Wie konnte er so dumm sein, sie zu packen?
Er schien absolut nicht zu wissen, in welcher Gefahr er schwebte. Es war nichts Ruhiges oder Zögerliches mehr an ihm. Er sah sie mit einer Art erschütterter Zärtlichkeit an, als habe sie ihm gerade erzählt, sie litte an einer tödlichen Krankheit. Es war, als versuche er durch eine direkte Berührung, Liebe und Wärme und Licht in sie hineinfließen zu lassen.
»Ich werde nicht zulassen, dass du das denkst«, sagte er. »Ich werde es nicht zulassen.«
»Es ist einfach die Wahrheit. Wenn du das akzeptieren kannst, wirst du im Leben nicht ertrinken. Was immer geschieht, du wirst damit fertig werden können.«
»Es ist ganz und gar nicht die Wahrheit. Wenn du das für die Wahrheit hältst, warum arbeitest du dann für den Zirkel der Morgendämmerung?«
»Ich bin dort groß geworden«, antwortete Kelly knapp. »Sie haben mich aus der Säuglingsstation des Krankenhauses entführt, als sie in der Zeitung Berichte über mich gelesen hatten. Sie begriffen, was ich war, und dass Menschen sich nicht um mich kümmern konnten. Deshalb arbeite ich für sie - um ihnen etwas zurückzugeben. Es ist mein Job.«
»Das ist nicht der einzige Grund. Ich habe gesehen, Kelly, wie du arbeitest.«
Sie konnte Wärme spüren, die sich von seinen Händen auf ihren Schultern verbreitete. Sie schlug seine Hände weg und richtete sich hoch auf. Da war ein Kern aus Eis in ihr und an diesen klammerte sie sich jetzt.
»Versteh mich nicht falsch«, begann sie. »Ich rette die Leute nicht aus Idealismus. Ich riskiere meinen Hals nicht für jeden - nur für die, für die ich bezahlt werde.«
»Du meinst, wenn Ilianas kleiner Bruder in Gefahr wäre, würdest du ihn nicht retten. Du würdest dastehen und zusehen, wie er in einem Feuer verbrennt oder in einer Flutwelle ertrinkt.«
Kelly wurde flau im Magen. Sie reckte das Kinn vor und sagte: »Genau. Wenn ich mich selbst in Gefahr bringen müsste, um ihn zu retten, würde ich es nicht tun.«
Er schüttelte den Kopf, felsenfest von seiner Meinung überzeugt. »Nein.«
Das Magengefühl wurde immer flauer.
»Das ist eine Lüge«, widersprach er und hielt
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