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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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haben sich gerade im Staat New York ein Haus gekauft. Und noch etwas muss man über Natalie wissen: Sie liebt Herausforderungen im Sport, in unterschiedlichen Disziplinen. Häufig nimmt sie an regionalen, teilweise auch überregionalen Wettkämpfen teil. Am erfolgreichsten ist sie im Bogenschießen, aber auch als Langstreckenschwimmerin erzielt sie gute Ergebnisse.
    Natalie und Isabell sind als Schwestern so sehr Komplizinnen, dass sie sich mit demselben Spitznamen begrüßen. Bei ihnen klingt das zum Beispiel so: »Hallo Partner!« – »Hallo Partner!« Oder sie wählen eine spanische Variante: »Ola Amigo!« – »Ola Amigo!«. Bei ihrem richtigen Namen nennen sie sich nie. Damit bewegen sie sich in einer Familientradition. Auch in ihrem Elternhaus wurde niemand mit seinem richtigen Namen angeredet. Alle hatten Spitznamen, und bei den beiden Töchtern waren es männliche Namen. Natalie hieß wahlweise »Troll« oder »Fuchs«, Isabell hieß »Jim Knopf« oder »Tiger«. Sie können nicht mehr sagen, woraus sich das Spiel mit den [63] Namen entwickelte, das sie heute als erwachsene Frauen fortsetzen.
    Eine zweite Auffälligkeit der beiden Schwestern sind ihre sanften Stimmen, der wohlwollende Tonfall, auch dann, wenn sie über offensichtliche Versäumnisse ihrer Eltern reden. Die Töchter sehen, wie eingeschränkt Mutter und Vater waren – eingeschränkt in ihren Gefühlen und in ihrer Wahrnehmung, aber auch viel zu bescheiden in ihren immateriellen Wünschen ans Leben. Natalie und Isabell führen diesen Mangel auf deren Kriegskindheit zurück. Inge und Peter Kramp*, beide Mitte der Dreißiger Jahre geboren, hatten eher aus Vernunft als aus Begeisterung den Lehrerberuf ergriffen. Peter Kramp wollte ursprünglich Architekt werden und seine Frau Möbeldesignerin, aber das war ihnen wohl zu riskant, und so bewegten sie sich während ihres ganzen Berufslebens zwischen Klassenzimmer und Lehrerzimmer.
    Schulversagerinnen
    Ihre Töchter haben sich oft gefragt, warum Vater und Mutter einerseits überdurchschnittliche Schulnoten erwarteten, aber von Elternseite keinerlei Unterstützung kam. »Jedes Jahr war die Versetzung gefährdet.«, erzählt Isabell. »Aber sie haben uns nicht geholfen, damit das Drama endlich aufhörte. Sie haben uns allein gelassen. Nach außen wurde die Fassade aufrechterhalten. Unser Vater hat sich vorgestellt, wir könnten eine Banklehre machen, weil das etwas Sicheres ist, aber selbst dafür hätten unsere Noten nicht gereicht. Es hätte uns keiner genommen.«
    Die Schwestern haben ein gemeinsames Projekt. Überschrift: Zwei Frauen auf der Suche nach ihrer Identität. Wenn Natalie und Isabell von ihrer Herkunftsfamilie sprechen, dann fällt häufig der Begriff »Die Burg« – eine Metapher für Schutzbedürftigkeit, [64] Isolation und Überheblichkeit. Die Burg wird beherrscht und verteidigt von Mutter Inge. Sie hält die Fäden in der Hand, nicht nur in Bezug auf Töchter, Enkel und Schwiegersohn, sondern auf ihre ganze Verwandtschaft, die sich gern und häufig in der Burg aufhält.
    Als die beiden Töchter noch zu Hause wohnten, war die Stimmung geprägt von einer vitalen, aber unruhigen Mutter, eine Frau, die immer mehrere Sachen zur gleichen Zeit machte, die lebhaft erzählte und gern lachte. »Aber ihre Fröhlichkeit hatte etwas Künstliches«, meint Isabell. »In unserer Familie wurde zwar gelacht, aber nicht entspannt und nicht herzhaft – so wie ich das heute mit meinen Kindern kenne.« Mit ihnen allerdings, fügt sie hinzu, erlebe sie ihre Mutter anders: eine Frau, die sich noch kindlich freuen kann und sich vom Lachen der Enkel anstecken lässt.
    An dieser Stelle unseres Gesprächs versuche ich mir vorzustellen, wie wohl Inge Kramp die Aussagen ihrer Töchter kommentieren würde. Vielleicht so: »Diese überkritischen jungen Frauen! Sie sind ja völlig überdreht. Jeder Mensch hat sein unverwechselbares Lachen. Warum soll ich mit den Enkelkindern anders lachen als mit meinen Töchtern!«
    Den Schilderungen der Schwestern aus ihrer Kindheit und Jugend entnehme ich: Die Burgbewohner sahen sich als etwas Besonderes, sie machten sich nicht mit den Dorfbewohnern gemein. »Unsere Eltern hatten neu gebaut. Man ging nicht auf Dorffeste, man arbeitete außerhalb«, stellt Isabell mir die Situation dar. »In unserer Familie wurde auch immer ganz hässlich über andere Leute geredet, zum Beispiel über Nachbarn, die sonntags alle zusammen wandern gingen. Da standen wir auf der Terrasse und zogen

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