Kriegsenkel
denn meint, von der Aufdeckung der Familienkatastrophen profitiert zu haben. Er schaut mich überrascht an. »Aber sicher«, sagt er lebhaft. »Ich weiß, die meisten Menschen denken: Mit den Kriegserlebnissen meiner Eltern will ich mich nicht belasten. Für mich aber war es eine Befreiung, als ich endlich die Wahrheit kannte. Es sind Zentner von mir abgefallen!« Er macht mir gegenüber noch einmal deutlich, wie dankbar er seiner Mutter ist, weil sie die Familienkatastrophen ans Licht brachte. »Wenn so etwas nie ausgedrückt werden konnte, dann steckt das in der Familie drin und wirkt weiter. Erst danach, als ich die Geheimnisse kannte, habe ich ganz viel verstanden: Warum bei uns immer so große Angst war, warum mein Vater sich so angepasst verhielt, sein extremes Sicherheitsdenken, sein Sparen, Sparen, Sparen.«
[56] Ich muss keine Frau mehr retten
Er räumt ein, die Eltern zu verstehen sei nur ein Schritt unter vielen. Es habe noch zwei weitere Jahre gedauert, bis sich Entscheidendes in seinem eigenen Leben änderte. Und er zählt auf: Zu seiner Mutter hat sich das Verhältnis spürbar gebessert. Seit er seine Eltern als Menschen sehen kann, die durch den Krieg »gebrochen« waren, gelingt es ihm, sonderbare Verhaltensweisen seiner Mutter, die ihn früher schnell aufregten, besser zu ertragen. »Ich kann mich einfach abgrenzen. Am liebsten treffen wir uns heute nicht bei ihr oder bei mir, sondern wir gehen in ein schönes Restaurant.« Zweitens hat seine Mutter durchaus gelernt zu genießen. Drittens kann sie heute, wenn es sein muss, bei Behörden oder bei ihrer Bank weit selbstbewusster auftreten als noch vor drei Jahren. Viertens hat Robert Bilak einen Entwicklungsschub erfahren. »Das zeigt sich unter anderem darin, dass ich mehr Respekt vor der Lebensleistung meiner Eltern habe und ich sie nicht mehr wegen ihrer Ängstlichkeit und ihrer Anpasserei verurteile.« Fünftens ist es beruflich mit ihm aufwärts gegangen. Kürzlich kam es sogar zu einer Verhandlung beim Bundesarbeitsgericht. Er, Robert Bilak, auf Augenhöhe mit einem Bundesrichter – das hätte er sich früher nicht träumen lassen. »Und sechstens: Ich muss keine Frau mehr retten.« Alles in allem eine beachtliche Bilanz.
Noch ein Letztes hat er vergessen zu erwähnen: seine »Dispo-Macke«. Die, versichert er mir, habe sich aufgelöst – zusammen mit den Schuldgefühlen aus der seelischen Hinterlassenschaft seines Großvaters. Die Last sei verschwunden – er wisse gar nicht mehr, wann. Wenn mir daran läge, könne er das anhand der alten Bankauszüge feststellen.
[57] Drittes Kapitel
DIE BURGFAMILIE
[59] Freundliche und gut erzogene Töchter
Je nach Blickwinkel kämen über die ersten zwanzig Lebensjahre von Isabell und Natalie Kramp* recht unterschiedliche Urteile heraus. Nachbarn, die beide Mädchen heranwachsen sahen, könnten ein Klischee bedienen: eine nette Familie. Beide Töchter freundlich und gut erzogen. Die Mutter hilfsbereit und stets gut gelaunt. Der Vater patent und bestens informiert, einer, der immer Rat wusste. Dazu das Haus und der schöne Garten. Kann es bessere Bedingungen für eine glückliche Kindheit geben?
Die Mutter von Isabell und Natalie würde hervorheben: Wir waren eine fröhliche Familie, und als Familie hält man zusammen. Mein Mann und ich haben unseren Töchtern gern eine Freude gemacht und versucht, ihnen alles zu ermöglichen. Trotz zweier Gehälter war das nicht immer einfach, weil wir durch unser Haus finanziell belastet waren. Unsere Mädchen waren keine guten Schülerinnen, aber wirklich große Probleme gab es mit ihnen nicht, außer einmal, als Natalie 18 Jahre alt war. Da hatte sie eine Krise. Es hing mit dem Tod ihres Vaters zusammen.
Essstörungen
Eine völlig andere Version käme von Carola, einer guten Freundin der Schwestern seit Kindertagen. Carola würde sagen: Am Anfang habe ich die beiden tierisch beneidet. Die bekamen alles von ihren Eltern, denen fehlte nichts! Zwei Lehrer verdienen ja auch gut. Es war auch immer jemand zu Hause, wenn die Mädchen aus der Schule heimkamen. Aber als Jugendliche waren Isabell und Natalie furchtbar unglücklich. Ich merkte es, obwohl sie sehr verschlossen waren. Beide Schwestern kamen in [60] der Schule schlecht mit, beide litten an Essstörungen. Ja, sie waren so dünn, dass man dachte, die kippen bald um. Ich habe mit meiner Mutter gelegentlich darüber gesprochen, weil es uns sonderbar vorkam, dass deren Eltern nichts dagegen unternahmen. Und dann
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