Kriegsenkel
über sie her, anstatt selber die Schuhe anzuziehen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Wir waren ja immer nur zu Hause. Die Eltern hatten keine Energie und Lust, irgendwohin zu fahren. Wir lebten eben wie in einer Burg.«
[65] In den Augen ihrer Töchter ist Inge Kramp, das ehemalige Flüchtlingskind aus Schlesien, nie wirklich im Hunsrück angekommen. Sie trauert der verlorenen »alten Heimat« immer noch nach, scheut aber davor zurück, sich mit Erinnerungen an den Verlust zu konfrontieren. Unter den vielen Bildern im Haus war nicht eines von Breslau. Warum auch, würde sie einer entsprechenden Frage begegnen, das Breslau ihrer Kindheit gebe es nicht mehr. Sie verspüre keinerlei Drang, ihren Geburtsort wiederzusehen. Vermutlich würde sie noch hinzufügen, Heimat im Sinne einer Region sei für sie nichts Erstrebenswertes, wichtig sei ihr nur die Familie. Natalie und Isabell wissen über die Flucht nur wenig. Ihre Großmutter war mit ihren Kindern ein ganzes Jahr unterwegs. Zunächst retteten sie sich in das scheinbar sichere Böhmen. Wer sich mit den historischen Fakten auskennt, weiß, dass sie damit vom Regen in die Traufe gekommen sein müssen. »Unsere Mutter hat aber nichts von Gewalt erzählt«, erklärt Natalie. »Sie sagte, diese zwölf Monate seien eher abenteuerlich gewesen als schlimm – ein Zigeunerleben.«
Peter Kramp wurde 1935 in Koblenz geboren und wuchs so gut wie vaterlos auf. Sein Vater überlebte zwar den Krieg, starb aber kurz nach seiner Heimkehr an den Spätfolgen der entbehrungsreichen russischen Gefangenschaft. Mit zehn Jahren kam Peter Kramp in ein Internat, eine strenge Klosterschule, die ihn aufnahm, obwohl seine Mutter auf Grund ihrer kleinen Rente nichts bezahlen konnte.
Mama nahm alles hin
Von seinen Töchtern wird der Vater als Einzelgänger beschrieben. Er sprach nicht viel. Die Beziehung zu seiner eigenen Mutter war spannungsreich. Nach ihrem Tod hatte er kaum noch Kontakt zu seiner engeren Verwandtschaft. Im Unterschied zu seiner Frau führte er noch ein Leben außerhalb der Burg. Er [66] spielte Golf und ging ins Theater oder in Konzerte der klassischen Musik, wobei er sich, soweit seine Töchter sich erinnern, während einer bestimmten Phase von einer jüngeren Kollegin begleiten ließ. »Unsere Mama fügte sich stumm«, erzählt Isabell. »Sie hat nie gemeckert, sondern alles hingenommen, wie es war. Ihr Satz dazu lautete: Leben heißt der Not gehorchen. Sie hatte kein eigenes Hobby, sie war ohne geistige Interessen. Unsere Eltern haben nie etwas gemeinsam gemacht, außer in Haus und Garten zu arbeiten.« Inge und Peter Kramp waren stets mit irgendetwas beschäftigt, das unbedingt erledigt werden musste, und sie leisteten in der Tat enorm viel. Ihre Töchter meinen rückblickend, die Eltern seien nie wirklich zur Ruhe gekommen. Peter Kramp starb mit 50 Jahren an Krebs.
Beide Töchter fanden die Ehe ihrer Eltern »schrecklich«. Ihre Mutter aber, erzählen sie, sehe das völlig anders und lasse sich in ihrem Urteil auch nicht beirren; sie spreche gern von ihrer »glücklichen Ehe«. Auch ihre beiden Töchter habe sie als junge Mädchen im Wesentlichen »glücklich« in Erinnerung. Dass es manchmal Schwierigkeiten gab, vor allem während der Pubertät, würde Inge Kramp nicht abstreiten. Sie tat es auch nicht, als Natalie und Isabell beim vergangenen Weihnachtsfest, als die Kinder endlich im Bett lagen, ein offenes Gespräch mit der Mutter suchten. Inge Kramp hörte sich an, was für ihre Töchter im Umgang mit ihren Eltern problematisch gewesen war, und am nächsten Morgen sagte sie knapp: »Ich habe über alles nachgedacht und bin der Meinung: Generationskonflikte gibt es überall.«
Natalie litt bereits als Zehnjährige unter massiven Ängsten. »Ich lag jede Nacht heulend im Bett«, berichtet sie. »Ich beruhigte mich erst wieder, wenn ich bei Mama und Papa im Bett schlafen durfte. Das heißt: Die Eltern müssen meine Not mitbekommen haben. Doch nach den Ursachen wurde nicht geguckt. Sie gingen auch nicht in eine Erziehungsberatung.« Es kann zum Verständnis beitragen, wenn an dieser Stelle eine [67] ganz andere Not wahrgenommen wird: die der Eltern bei Kriegsende. Auch sie waren damals zehn Jahre alt. Später, als Erwachsene, erinnerten sie sich der Zeit der Katastrophen entweder als Abenteuer, oder sie hielten die Schreckensbilder auf andere Weise auf Abstand, zum Beispiel durch übermäßiges Arbeiten. Vermutlich gehörten Inge und Peter Kramp zu der weit
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