Kriegsenkel
belastete, waren ja nicht nur ihre Schwierigkeiten, sich von ihren Eltern abzunabeln, sondern auch der gesellschaftliche Gegenwind. Sie alle hatten die Erfahrung gemacht, nicht ernst genommen zu werden, wenn sie Freunden, Bekannten oder Kollegen darzustellen versuchten, warum sie sich als Kinder von Kriegskindern definierten. Dass sich aus dem Seminar eine Art Selbsthilfegruppe entwickelte, ist also nachvollziehbar. Die Beteiligten erkannten ein brisantes Generationsthema, das sie verband und das ihnen die Chance gab, ihre Identität in Bezug auf ihre Familienidentität und ihre gesellschaftliche Identität zu klären.
Robert Bilaks innerer Prozess ging weiter. Doch eine entscheidende Erkenntnis traf ihn nicht im Austausch mit anderen Kriegsenkeln, auch nicht bei Recherchen im Internet, sondern auf einer Urlaubsreise. Vor zwölf Monaten machte er sich wieder einmal auf in die Tropen, auf der Suche nach einem schönen, unberührten Fleckchen Natur, um für sechs Wochen ganz für sich zu sein. Diese Orte sind nicht leicht zu finden. Werden sie unter Individualtouristen als Geheimtipp gehandelt, kommt man schon zu spät. Dann ist man dort nicht mehr allein. Aber schließlich entdeckte er an einem einsamen Strand an der Pazifikküste sein kleines Paradies. Robert brauchte einige Tage, um sich an die neue Umgebung und die Stille zu gewöhnen. Dann tauchte er ein in die Wonnen seines speziellen Einsiedlerdaseins: Schwimmen, Schnorcheln, in der Hängematte liegen.
[54] Großvaters »verlorenes Paradies«
Eines Morgens weckte ihn ein grässliches Geräusch. Ein Bulldozer näherte sich und begann in unmittelbarer Nähe von Roberts Lager mit Erdarbeiten. Ein großes Haus sollte dort entstehen. Das Ende der Stille. Aus dem Paradies war ein Arbeitsplatz geworden. Natürlich dachte Bilak an Flucht. Stundenlang überlegte er, welche Alternativen sich ihm boten. Dann aber hatte sich auch das erledigt, denn eine Wunde am Fuß – eine Verletzung an einem scharfen Felsen – zwang ihn zu bleiben, wo er war. Er konnte nicht mehr gehen, und so, wie die Wunde aussah, würde sie längere Zeit brauchen, um zu heilen. Einige Tage später kam ein Lastwagen, das Autoradio auf voller Lautstärke. Zwei Männer stiegen aus, sie entluden Geräte, Werkzeuge und verschiedenes Material. Zwei Betonpfeiler für eine Toreinfahrt wurden gegossen. Dann begannen die Männer einen Zaun zu errichten. Aus dem Laster dröhnten lateinamerikanische Schnulzen und Disko-Musik.
Robert saß fest. Er befand sich am falschen Ort. Er hatte viel Zeit. Ohne dass er danach suchte, stellten sich bei ihm Gedanken ein, die völlig neu für ihn waren. Der Begriff vom »verlorenen Paradies« weckte verschiedene Assoziationen und führte ihn schließlich auf die Spur seines Großvaters mütterlicherseits. Auch der hatte sein Paradies verlassen müssen. Robert wusste über seinen Großvater, den er nicht mehr kennen gelernt hatte: Er hatte sich mit Fleiß und Geschick zu einem erfolgreichen Unternehmer hochgearbeitet und in Böhmen einen Hof gekauft. Auch hier gelang ihm, was er anpackte. Die Landwirtschaft machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Er war seinem Enkel als Familienmensch geschildert worden, dem nichts wichtiger gewesen sei als das Wohlergehen seiner Frau, seiner Mutter und seiner Kinder.
Dann der Krieg. Die rote Armee rückte näher. Es gab einen kurzen Zeitraum, da hätte er fliehen können. Aber er zögerte. [55] Vielleicht hoffte er noch auf die Amerikaner. Auf jeden Fall hoffte er, seiner Familie ein Leben in tiefster Armut ersparen zu können. Es war der entscheidende Fehler seines Lebens. Nicht nur, dass er alles verlor, was er besaß – er wurde gezwungen anzusehen, wie seine Frau und seine Mutter von Sowjetsoldaten vergewaltigt wurden.
»Die Schuldgefühle müssen für meinen Großvater unüberwindbar gewesen sein«, erläutert mir Robert Bilak seine Gedanken. »Er war ein gebrochener Mann – das ist mir plötzlich klar geworden. Dort am Meer war er mir fast körperlich nah, als säße er neben mir in der Hängematte. Er weinte. Wir weinten zusammen.« Der Enkel begriff, dass die hartnäckigen Schuldgefühle, die ihn selbst immer wieder befielen, von seinem Großvater stammten. »In unserer Familie gibt es den Spruch: Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben!«
Während des Gesprächs, das Robert Bilak und ich führen, ist es dämmrig im Raum geworden. Er steht auf und macht Licht. Als er sich wieder hingesetzt hat, möchte ich wissen, ob er
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