Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
Vom Netzwerk:
verbreiteten Gruppe der Kriegskinder, die der festen Überzeugung waren, sie hätten nichts besonders Schlimmes erlebt, auch wenn die objektiven Fakten dagegen sprachen. Natürlich hat meine Sichtweise etwas Spekulatives. Jeder Einzelfall liegt anders, und wir wissen auch nicht, wie es im tiefsten Innern der Eheleute Kramp ausgesehen haben mag. Fest steht nur, dass sie kein Sensorium für die seelischen Leiden ihrer eigenen Kinder hatten, die im Unterschied zu ihnen selbst in den besten aller Zeiten aufwuchsen.
    Diagnose Bulimie
    In der Pubertät entwickelte Natalie eine Bulimie. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern den körperlichen Zustand ihrer Tochter keineswegs als besorgniserregend ansahen. Dennoch kam es zu einem Besuch in einer psychologischen Praxis. Inge Kramp ging in die Beratung, wie man sich einer Pflicht entledigt. Natalie erzählt: »Die Psychologin sagte: ›Schauen Sie doch mal, Frau Kramp, wie dünn ihre Tochter ist!‹ Aber meine Mutter konnte das nicht erkennen. Nach diesem Termin meinte sie: ›Von der lass ich mir doch nicht sagen, was ich zu tun habe.‹« Natalie fügt hinzu, sie habe damals große Hoffnungen in die Äußerungen der Psychologin gesetzt. Ihr sei klar gewesen: Diese Frau sieht meinen Schmerz. Aber die habe ihre Mutter auch nicht erreichen können.
    Später kam es auch bei Isabell zu einer Essstörung. »Ich war nicht bulimisch. Mir hat einfach das Essen nicht geschmeckt«, [68] erklärt sie. »Es lag daran, dass Mutter nicht gern kochte. Sie sagte oft: ›Es wäre schön, man könnte anstatt zu essen eine Pille einwerfen!‹ Wir hatten zu Hause keine Esskultur – von Mutters Seite war es Abfüttern. Und was mich betrifft: Mit 48 Kilo bei 1,70 Meter galt man in meiner Familie nicht als untergewichtig.« Sie fügt hinzu, für sie sei in diesem Zusammenhang die Schwangerschaft entscheidend gewesen. Sie habe erst nach der Geburt ihres Sohnes zu einem normalen Körpergewicht gefunden.
    Sie war 21 und ihre Schwester 18 Jahre alt, als ihr Vater nach einer kurzen Krankheit starb. Natalie beschreibt, wie groß der Schock war. »Damals dachte ich, es sei meine Aufgabe, die Mutter wieder glücklich zu machen. Als ich merkte, ich kann die Mama nicht trösten, stürzte ich in die tiefste Verzweiflung.« Natalie wollte so nicht mehr leben. Rückblickend sieht sie in ihrem Suizidversuch einen letzten Hilferuf – nachdem ihre Bulimie nicht ausgereicht hatte. In ihr steckte das Gefühl absoluter Wertlosigkeit. Sie habe immer gedacht, sie müsse sich die Liebe ihrer Mutter erst noch verdienen, erklärt sie, nur habe sie nicht gewusst, wie. »Ich empfand es so, als wäre ich bei meiner Mutter nicht willkommen – und damit war ich auch nicht wirklich im Leben angekommen.« Sie dachte, alles sei allein ihre Schuld. Sie verstand nicht, warum sie nicht glücklich sein konnte. Sie hatte doch alles!
    Nach dem Suizidversuch verbrachte sie ein halbes Jahr in einer psychosomatischen Klinik. Danach kehrte sie nicht wieder in ihr Elternhaus zurück, sondern zog in eine Wohngemeinschaft. Später beschloss sie, einige Semester in den USA zu studieren. Inzwischen wohnt sie schon 15 Jahre dort. In New York ist ein stabiler Freundeskreis gewachsen. Man kann auch sagen, Natalie Kramp ist umgeben von Wahlverwandten. »Uns verbindet, dass wir alle von weit her kommen«, erläutert sie. New York ist bekannt für seine Anziehungskraft auf Menschen, die sich nirgendwo zu Hause fühlen. Hier sammeln sich die [69] Wurzellosen, und häufig geschieht es, dass über die Jahre ein Heimatgefühl entsteht.
    Ihre Schwester Isabell weiß noch nicht, in welcher Stadt sie mit ihren Kindern leben wird. Ihre größte Angst seit der Trennung ist, dass ihr Mann und ihre Mutter sich gegen sie verbünden könnten. Sie sehen sich häufig, sie verstehen sich gut. Der Schwiegersohn teilt die Sichtweisen von Inge Kramp, wonach die Familie etwas Heiliges, Unantastbares ist – dem sich alles andere unterzuordnen hat – und dass das Leben vor allem Arbeit und Pflichten bedeutet. Ihr Mann, sagt Isabell, sei, ähnlich wie ihre Eltern, sehr konservativ und ein Workaholic. Auf meine Frage hin, ob es von ihrer Seite konkrete Befürchtungen gebe, denkt sie eine Weile nach. Dann gibt sie sich einen Ruck. »Ich weiß nicht, ob das, was ich da sehe, überhaupt realistisch ist«, räumt sie ein, »aber ich stelle mir vor, dass mein Mann die Kinder bekommt und sie unter den gleichen Bedingungen aufwachsen wie ich …«
    Ich bin doch deine Tochter,

Weitere Kostenlose Bücher